In Wertheim den Werkstoff Glas in seiner ganzen Vielfalt entdecken

Mindestens drei gute Gründe gibt’s, gerade jetzt das Glasmuseum Wertheim zu besuchen: Aus Anlass des von den Vereinten Nationen ausgerufenen internationalen Jahr des Glases 2022 ist die frankenweit ohnehin einzigartige Einrichtung inhaltlich und didaktisch aufgewertet worden mit nach dem Corona-Lockdown bereitgestellten Mitteln des NeuStart-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Und es naht der Advent; da wird traditionell in einer großen Weihnachtsausstellung bis 6. Januar historischer und moderner Christbaumschmuck aus Glas „am Objekt“ präsentiert – an insgesamt sieben Fichten und Kiefern. Wem im eigenen Heim noch ein individuelles Dekorationsstück fehlt, kann hier mithilfe eines Glasbläsers eine Kugel gar selbst fertigen.

Sogar der Fußabstreifer auf dem Boden fordert dazu auf: „Folge dem Herz!“ Das Leitsystem zeigt einen in entsprechender Form geschliffenen Glasstein und lotst so die Gäste durch zwei städtische Gebäude an der ins Taubertal führenden Mühlenstraße. An 35 Mitmachstationen lässt sich allerhand ausprobieren. Nachvollzogen wird, wie sich Glas als einstiges Luxusprodukt der Antike bis zum heute unentbehrlichen Werkstoff für Wissenschaft, Medizin und Industrie entwickelte. „In Fenstern, Türen oder Fassaden sorgt Glas für lebenswichtiges Tageslicht, während es uns vor Hitze und Kälte schützt“, erklärt der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Flachglas, Jochen Grönegräs. Er macht deutlich: „Ohne Glas gäbe es keine Brille, kein Mikroskop oder Teleskop. Es steckt aber beispielsweise auch in Computerchips oder Glasfaserkabeln. Alles Dinge, ohne die unser Dasein nicht denkbar wäre.“ Glasfasern verbinden und vernetzen als Lichtwellenleiter Menschen auf allen Kontinenten. Sie durchleuchten den Körper, sehen in Nase und Luftröhre sowie in Magen und Darm.

Glasfasern verbinden als Lichtwellenleiter die Menschheit.

Drei Grundmaterialien

Seit rund 9000 Jahren beeinflusst das transparente Material nachhaltig das menschliche Leben. Der älteste schriftliche Hinweis auf Glas ist auf einer Tontafel aus der Regierungszeit des assyrischen Königs Assurbanipal im siebten Jahrhundert vor Christus zu finden. Ein Schreiber notierte: „Nimm 60 Teile Sand, 180 Teile Asche aus Meeresalgen und fünf Teile Kreide – und du erhältst Glas.“ Nach wie vor geht man im Wesentlichen von Quarzsand, Soda als Flussmittel und gebranntem Kalk aus; Letzterer macht das Glas besonders hart und fest. Bis zu 1000 verschiedene Rezepturen existieren mittlerweile – je nach dem, für was das Glas später gebraucht wird.

Wertheim ist nach Mainz das zweitgrößte Zentrum der deutschen Laborglasindustrie. Der Aufstieg begann um 1950: Fünf Unternehmer aus Thüringen errichteten das Glaswerk Wertheim, um sich eine Rohstoffquelle zu sichern. Bald belieferten die Wertheimer mehr als 100 weitere Glas verarbeitende Betriebe mit Rohglas und Halbfabrikaten. Solche siedelten sich auch vor Ort an; in den 1970er-Jahren verdienten in der Branche etwa 3000 Männer und Frauen ihren Lebensunterhalt – aktuell immerhin noch gut die Hälfte, wenngleich das Glaswerk Wertheim 1994 die Produktion einstellte.

Kuriositäten zuhauf

Der erste Glaswerk-Geschäftsführer, der Physiker Dr. Hans Löber, beschloss 1973, die Vielseitigkeit des Werkstoffs Glas der Öffentlichkeit vorzustellen. Er war die treibende Kraft für die Gründung eines Vereins, der wiederum 1976 das Glasmuseum aus der Taufe hob. Zu dessen Eröffnung stellte die Glaswerk-Belegschaft den wahrscheinlich größten Weinrömer der Welt her mit einem Fassungsvermögen von sechs Litern.

Rekordverdächtiger Weinrömer.

Kuriositäten begegnet man zuhauf in diesem Museum. Zuletzt spendierte ihm in diesem Jahr die auf Präzisionsinstrumente zur Temperatur- und Dichtemessung spezialisierte heimische Firma Ludwig Schneider ein „Jumbo“-Thermometer. Mehr als dessen Größe verblüfft bei der „Schildkröte“ die Raffinesse. Dieses Thermometer wird am Arm getragen; sinkt die fünfte von sieben in einer Flüssigkeit aufgereihten Glaskugeln nach unten, hat der Patient Fieber.

Das „Krokodil” misst, ob ihr Träger Fieber hat.

Exitus auf sehr makabre Weise wurde 1735 in Venedig bei Dominik Marquard Sebastian Christian von Löwenstein-Wertheim-Rochefort festgestellt. In seinem Herz steckte die abgebrochene Spitze eines Degens aus Glas. Er soll von Zauber umgeben gewesen sein – immun gegen Gift und undurchdringlich für Metall. Seine Patenfee hatte ihm ein Duftwasser geschenkt, das ihn unwiderstehlich liebenswert machte. Die anderen Männer beneideten ihn. Durch Verrat kamen sie hinter sein Geheimnis und meuchelten ihn mit einer außergewöhnlichen Waffe.

Betörende Essenzen werden von jeher in besonderen Behältnissen verwahrt. Seit 1500 vor Christus formten ägyptische Glasmacher extra Gefäße für kostbare Salben. Als Katharina de Medici im 16. Jahrhundert Parfum an die Höfe Europas brachte, vermittelte klares Bleikristallglas dabei eine gewisse Eleganz. Im 19. Jahrhunderten bevorzugten die Damen hingegen Flakons aus kräftigen Farben wie Rubinrot, Achatgrün und Kobaltblau. Coco Chanel „verpackte“ 1921 die blumig-frische und einen sinnlichen Hauch von Moschus verbreitende N°5 ganz einfach kühl-sachlich. Museumsleiterin Heike Baumann freut sich: „Wir verfügen selbstverständlich auch über die in Wertheim für Bernd Eichingers Thriller ‚Das Parfum‘ hergestellten Fläschchen.“

Kühl-sachlich ist das Design des Flakons von Coco Chanel.

Schön und besonders

Wegen des immensen Holzbedarfs zählte der nahe Spessart vom 13. bis 19. Jahrhundert mit rund 150 Waldglashütten zu den bedeutendsten Glasmachergebieten Europas. Alois Wienand, von 1951 bis 1994 Glasmacher im Glaswerk Wertheim, übergab 2009 seine Mustersammlung von 75 Nachbildungen historischer Gläser dem Glasmuseum. Sonderanfertigungen werden häufig von den drei Mitarbeitern des Glasmuseum erbeten, die im Schaubetrieb dem alten Handwerk frönen. Ralf Marlok berichtet stolz von 40 Champagnerkelchen nach dem Vorbild venezianischer Flügelgläser aus dem Barock für ein Kitzbühler Hotel. Unlängst wünschte eine Silberschmiedin für eine Vernissage seine Serie von Scherzgläsern – mit Loch.

Solche Noppengläser aus den Spessart-Glashütten hatten den Vorteil, dass sie einem nicht so leicht entglitten. Da man seinerzeit beim Essen für gewöhnlich auf Besteck verzichtete, bestand mit den fettigen Fingernstets Gefahr für den teuren Luxusartikel.
Ralf Marlok ist einer der drei Mitarbeiter des Glasmuseums Wertheim, der mit und für die Gäste unter anderem Glaskugeln bläst.

Trotz aller Leidenschaft auch für neuzeitliche Objekte aus der in den 1960er-Jahren aufgekommenen Studioglasbewegung begeisterte sich Museumsinitiator Dr. Löber am meisten für die Thüringer Lampenglasbläserei. Sie etablierte sich um 1750 in dem kleinen Ort Lauscha. Die in der Dorfglashütte gezogenen Glasröhren und Glasstäbe wurden zu Hause mit einer Gebläselampe erhitzt und weiterverarbeitet. In den Familien wurden vor allem für den Export Hohlglasperlen für Rosenkränze und Modeschmuck geschaffen, ferner Spielzeug und Nippesfiguren, Christbaumschmuck und medizinisch-technische Waren wie Glasaugen. Weihnachtsbaumbroschen aus Strass waren in den amerikanischen Juweliergeschäften nach dem Zweiten Weltkrieg ein Verkaufsschlager. Der aus Deutschland stammende Stardesigner Albert Weiss soll den Trend ausgelöst haben. Und natürlich war’s auch eine deutsche Erfindung, mittels des Stabtrommelziehverfahrens ab 1932 anstatt Engelshaar nun Glasgarn aufzuspulen – um Weihnachten zu verschönern.

Christbaumspitze mit Hirsch aus Lauscha im Thüringer Wald.
Weihnachtsmänner als Christbaumbehang anstelle von Kugeln.
Weihnachtsbaumbroschen waren von den 1940er- bis 1960er-Jahren ein Verkaufsschlager vor allem in den USA.

Das Glasmuseum Wertheim in der Mühlenstraße 24 ist im November noch ausschließlich nachmittags geöffnet, und zwar täglich außer montags von 14 bis 17 Uhr. Ab 1. Dezember gelten erweiterte Zeiten: von Dienstag bis Sonntag sowie an Feiertagen von 10 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr; an Heiligabend und Silvester bleibt das Haus allerdings geschlossen. Immer am Nachmittag ist ein Glasbläser im Einsatz. Führungen können unter der Rufnummer 09342 6866 verabredet werden. Weitere Daten unter www.glasmuseum-wertheim.de.


Lesesteine halfen häufig in den Schreibstuben der Klöster.
Christliche Motive werden in der Glaskunst schon immer gerne umgesetzt.
Medizinisches Glasprodukt: künstliche Augen.
Musikinstrument aus Glas.
Roter Knabenkopf.
Vase mit aufgelegten gläsernen Blättern und Blüten.
Tierisch schöne Glaskunst.
Kaiserlicher Glanz (des Kinos): Sisi.
Zahlreiche Exponate im Glasmuseum Wertheim können die Gäste auch käuflich erwerben.

Fotos: Bernhard Schneider

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