„Die ganz‘ Passion“ erst wieder nächstes Jahr im Fränkischen Freilandmuseum
Erstmals in 35 Jahren muss heuer das im Fränkischen Freilandmuseum in Bad Windsheim stets am Karfreitag aufgeführte Passionsspiel aus Gründen des Gesundheitsschutzes entfallen. Diese „Premiere“ wird freilich bedauert und betrauert statt gefeiert.
Wer unter dieser Form des Theaters ein fröhlich-buntes Treiben versteht, wäre ohnehin fehl am Platz. In der Regel erinnern sich hier viele Hundert Besucher andächtig daran, was Jesus Christus erlitten hat, um die sündige Menschheit zu erlösen. Die Aufführung beginnt um 14 Uhr, sodass der Sohn Gottes tatsächlich wie im Evangelium vermerkt zur dritten Stunde seinen Geist in die Hände seines Vaters empfiehlt. Natürlich spendet das Publikum kräftig Beifall, zögert aber zunächst – gerührt vom dramatischen Geschehen und von der ausdrucksstarken Darstellung.
Die Zuschauer sind Teilnehmer. Sie begleiten den zu Unrecht Verurteilten den Museumshügel hinauf bis zum Tod am Kreuz. Die „Schädelstätte“ ragt heraus aus urfränkischer Kulisse. Die Speisen zum Pessachfest hat Jesus mit seinen Jüngern an der Schäferei aus Hambühl, einem Ort im Landkreis Neustadt a. d. Aisch/Bad Windsheim, eingenommen. Das Gehöft gehört auf dem rund 45 Hektar großen, in sieben thematische Bereiche gegliederten Gelände zur Baugruppe West; die nach Bad Windsheim versetzten historischen Gebäude aus Mainfranken und von der Frankenhöhe spiegeln die hergebrachte regionale Lebensweise.
1984 übertrug Dr. Horst Steinmetz, der damalige Leiter der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik, die von dem Nürnberger Meistersinger Hans Sachs (siehe Infoblock) 1550 verfasste „ganz‘ Passion“ in die jetzt gängige Sprache. Der im Fränkischen Freilandmuseum beschäftigte Gerhard Göß scharte in seinem Heimatort Marktbergel schauspielbegeisterte Frauen und Männer um sich und brachte im darauffolgenden Jahr die Tragödie in sieben Akten auf die Windsheimer Naturbühne. Dem letzten Abendmahl folgen der Verrat des Judas und die Gefangennahme im Garten Gethsemane, die Verurteilung durch den Hohen Rat sowie die Einvernahme durch den römischen Statthalter Pontius Pilatus; schließlich setzen sich alle in Bewegung nach Golgotha zur Kreuzigung. Die „Bad Windsheimer Sänger und Spielleut‘“ um Fritz Eckardt führen mit würdevoll vorgetragenen Mundartmusikstücken in die jeweils nächste Szene hinüber. Die von Gitarrentönen unterlegten Männerstimmen dringen bis in den letzten Rang der improvisierten Tribüne; mancher Gast sitzt im Gras, andere sind mit Klappstuhl ausgestattet.
Die Sänger und Spielleut‘, so berichtet Jürgen Müller aus deren Reihen, sind einmal quasi vom Passionsspiel weg als Botschafter der fränkischen Volksmusik engagiert und nach Japan eingeladen worden. Daheim jedes Jahr den Karfreitag mitzugestalten, ist für sie Ehrensache. Begeistert merkt die für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Freilandmuseum verantwortliche Ute Rauschenbach an, dass auch aus Marktbergel weggezogene Mitglieder der Passionsspielgemeinschaft extra immer in die Heimat zurückkehren, um in der „ganz‘ Passion“ mitzuwirken.
Spielleiter Gerhard Göß schlüpft selbst seit jeher in die Rolle des Pilatus. Er zählt rund 50 Personen zur Stammbesetzung. „Im Durchschnitt reichen vier Proben“, zeigt er sich mit dem Eifer des Ensembles sehr zufrieden. Sicherheitshalber gibt es zwei Jesus-Darsteller: Michael Hufnagel und ersatzweise Marc Eisenreich. Schon früh lehrte ein Autounfall des damaligen Hohepriesters Kaifas, sich stets für Eventualitäten zu wappnen.
Den Unbilden des Wetters konnten die Schauspieler und Musikanten bis auf einmal bisher trotzen. Gegen die kürzlich ergangene staatliche Verordnung, wegen der Corona-Gefahr bis auf weiteres Museen und Veranstaltungsstätten zu schließen, konnte und wollte sich niemand stellen. Genauso wenig kam infrage, die Aufführung in die warme Jahreszeit zu verschieben. Also, hoffentlich auf ein Neues am Karfreitag 2021 – am 2. April!
Fotos: B. Schneider
Meistersinger von Nürnberg
„Empfängnis und Geburt Christi“ sowie „Die ganz‘ Passion“ sind die beiden vermutlich bekanntesten christlichen Dramen des Nürnbergers Hans Sachs (1494–1576). Nach einer Schuhmacherlehre hatte er sich auf seiner Gesellenwanderschaft am Hof Kaiser Maximilians I. in Innsbruck zum Studium des Meistersangs entschlossen. Die Meistersinger waren bürgerliche Poeten und Sänger im 15. und 16. Jahrhundert, die sich zunftartig zusammenschlossen. Ihre Dichtungen und Melodien leiteten sich aus dem Minnesang ab. Unter den Künstlern überwogen die Handwerksmeister. Ein solcher wurde Hans Sachs 1520. Er schuf über 6 000 Werke, davon rund 4 000 Lieder. In mehreren Tragödien und Komödien bearbeitete er biblische und historische Stoffe. Teile seiner Kompositionen sind zu finden in Chorälen (zum Beispiel „Wachet auf, ruft uns die Stimme“). Richard Wagner widmete 1868 dem Hans Sachs und Gleichgesinnten eine Oper: „Die Meistersinger von Nürnberg“.
Sehr anschaulich beschrieben, macht neugierig auf nächstes Jahr.?