Wo die Schondra in die Fränkische Saale fließt, ist Gräfendorf: 700 Einwohner – 3 Kirchen; die größte und modernste aus den Jahren 1966 und 1967 dient der katholischen Bevölkerung für Messfeiern und Andachten. Als Erstes hatten sich die evangelischen Mitchristen 1956 ein eigenes Gotteshaus errichtet. Die ursprüngliche Simultankirche von 1868/69 erfüllt aktuell keine Aufgabe. Aber für Johannes Sitter und zahlreiche Gleichgesinnte ist der verwaiste Sandsteinbau alles andere als ein „Lost Place“, wie derlei Leerstandsimmobilien in einschlägigen Kreisen charakterisiert werden. Als Kassier und Projektleiter des Fördervereins Alte Schutzengelkirche hat Sitter über 18 000 Euro Bundesmittel aus einem mit dem Begriff „Kirchturmdenken“ überschriebenen Soforthilfeprogramm akquiriert, dank denen jederzeit ein fundiert erläuterter Einblick möglich ist – trotz üblicherweise verschlossener Tür.
Sitter öffnet die Alte Schutzengelkirche nur auf Anforderung. Einen tatsächlich faltbaren, schmiedeeisernen Schlüssel muss er auf die volle Länge ausklappen und tief in den Federmechanismus hinter dem Türblatt einführen. Verheißungsvolle Spannung.
Niemand erhält Zutritt ohne kurze Unterweisung. So will Sitter das nötige Verständnis für das gleich Folgende wecken. All diese Informationen gibt es jetzt auch auf drei Stelen aus Cortenstahl, in einer 24-seitigen Farbbroschüre und als virtuellen Rundgang im Internet.
Förderung des ländlichen Raums
Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien hatte sich vorgenommen, „aktuelle und ehemalige Kirchen, Klöster und andere Sakralbauten im ländlichen Raum als Orte von Kultur und bürgerschaftlicher Begegnung erlebbar zu machen“. Das Motto: „Kirchturmdenken“. Entsprechende Projekte in einer Größenordnung von bis zu 25 000 Euro konnten mit 75 Prozent der Gesamtsumme bezuschusst werden. Das Geld stammte aus dem Bundesprogramm „Ländliche Entwicklung“ (BULE). Baumaßnahmen waren in der Regel ausgeschlossen. 79 Antragstellern wurde Unterstützung gewährt – nicht nur finanzieller Art. Ein Beirat bot fachliche Begleitung an.
Die für die Durchführung des Programms verantwortliche gemeinnützige GmbH Wider Sense TraFo teilte kurz vor Weihnachten mit, dass die Nachfolgerin als Bundesbeauftragte aus der Ampelkoalition signalisiert habe, das „Kirchturmdenken“ in eine zweite Runde schicken zu wollen. In der ersten waren zwei Bewerbungen aus Nordbayern erfolgreich (siehe www.kirchturmdenken.org): Das evangelisch-lutherische Dekanat Thurnau bei Kulmbach startete eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Orgelandachten PLUS“ in verschiedenen kleinen Dorfkirchen. Und eben die Gräfendorfer beleuchteten die Bau- und Zeitgeschichte ihrer Alten Schutzengelkirche und stellten deren Wandgemälde sowie die weitere Ausstattung crossmedial dar. Wer nicht vor Ort gehen kann oder mag, findet eine 360-Grad-Animation unter www.vgem-gemuenden.de. Gut, wenn sich Bürgermeister Johannes Wagenpfahl auch als Kirchenpfleger engagiert.
Für den Abbruch bestimmt
Auch Johannes Sitter war einmal Rathauschef, dann lange Kreis- und Bezirksrat. Und sofort erklärte er sich 2008 bereit, einen Posten im Vorstand des neu zu gründenden Fördervereins zum Erhalt der Alten Schutzengelkirche zu übernehmen. Die Initiative war von Dr. Rainer Koch ausgegangen. Der emeritierte Professor für Mittlere und neuere Geschichte sowie Direktor des Historischen Museums Frankfurt von 1983 bis 2005 verbringt seinen Ruhestand im Gräfendorfer Ortsteil Weickersgrüben.
Bis dahin hatte 40 Jahre lang zum Beispiel der gemeindliche Bauhof im Kirchenschiff mit Platz für rund 150 Gottesdienstteilnehmer Geräte und Materialien gelagert. Sitter erzählt, er selbst habe als junger Mann geholfen, die nach dem Neubau überflüssig gewordene Kirche leer zu räumen. Die Orgelpfeifen habe er herausgebrochen; um den Metallwert seien sie hergegeben worden. „Uns allen im Dorf war klar: Es folgt der Abbruch“, erinnert sich der Zeitzeuge die damalige Situation. Im Nachhinein freut er sich über das „Riesenglück“, dass das 1973 in Kraft getretene Bayerische Denkmalschutzgesetz das Bauwerk und die ihm innewohnende besondere Atmosphäre gerettet hat. Fürwahr prophetisch wirken die Bibelworte über dem Eingang: „Ich habe diesen Ort erwählt und geheiligt, so dass mein Name hierbleibe, alle Tage, bis am Ende der Zeiten.“
Das Alte ins Neue integriert
Wer durch Gräfendorf kommt, nimmt eigentlich nur die hoch über den Häusern thronende alte Kirche aus rotem Stein wahr. Die auf 500 Personen ausgelegte neue katholische Kirche steht abseits der Durchgangsstraße im rückwärtigen Bereich. Bundesweite Beachtung erlangte sie nach der Sanierung vor gut zehn Jahren als erste klimaneutrale Kirche Deutschlands. Beim Anbringen eines Wärmedämmverbundsystems im Innern nutzte die Kirchengemeinde die Gelegenheit, die nicht mehr trist grauen Betonwände mit einer, wie Sitter es formuliert, „behaglichen Wohnzimmerfarbe“ zu streichen. Außer dem von Anfang an „von oben per Schubkarre“ hierher überführten, mannshohen Schutzengel wurden weitere bis dato im Kindergarten „geparkte“ Figuren aus der alten in die neue Kirche integriert – zuletzt eine Pieta, die dank einer großzügigen Privatspende restauriert werden konnte.
Naheliegend war folglich, beim „Kirchturmdenken“ zu dokumentieren, was den Sakralbau auf dem Berg mit dem im Tal verbindet – einer im Geiste des Ersten Vatikanischen Konzils errichtet und der andere im Geiste des Zweiten. Förderverein unter Vorsitz von Wolfgang Schelbert, Pfarrer Johannes Werst und Kirchenverwaltung trugen ihre Ideen Anfang Juli 2021 zusammen, entwickelten gemeinsam mit professionellen Textern und Grafikern ein Konzept, für das Ende September aus Berlin prompt die Zuschusszusage kam. Zum Jahreswechsel reichte der Vereinskassier die Rechnungen als Verwendungsnachweis ein; die Mittel hatte er schon Anfang Dezember abrufen dürfen.
Nicht ab-, sondern aufgerufen, und zwar rund 500 Mal seit August 2020, wurde auf der Internetplattform Youtube eine sechsminütige Kamerafahrt durch die Alte Gräfendorfer Schutzengelkirche; angekündigt wird sie als „ein wunderschöner legaler Lost Place mit Geheimnissen“. Diese hat das „Kirchturmdenken“ (größtenteils) gelüftet.
| Fotos: B. Schneider