Tradition und Innovation begegnen sich in Ostheim vor der Rhön auf engstem Raum. Dabei verstehen die gut 3.300 Einwohner zu genießen. So locken sie Liebhaber geschmack- und kunstvoller Dinge ins Städtchen im Streutal nahe Thüringen – zum Beispiel zur größten und besterhaltenen Kirchenburg Deutschlands, ins einzigartige Orgelbaumuseum – ein Schloss für die Königin der Instrumente –, am ersten Adventswochenende auf den stimmungsvoll illuminierten Weihnachtsmarkt, Ende Mai auf den bunten Blumenmarkt und alle zwei Jahre Mitte Oktober auf den Rhöner Wurstmarkt.
Ostheim zählt zu den offiziellen 100 von der Staatsregierung ausgerufenen Genussorten Bayerns. Der Ostheimer Leberkäse, den ein Heimkehrer des 1870/71er-Kriegs den französischen Fleischpasteten nachempfand, wurde nach überlieferter Rezeptur zeitweise in den Bordrestaurants der ICE-Züge ebenso wie Nürnberger Bratwürste serviert. Der heimischen Gastronomie kommt nicht nur die Kreativität des Metzgerhandwerks zugute: Drei Brauereien leisten ebenfalls ihren Beitrag. In einer entwickelte der Chef durch Fermentation (Vergärung) das Kultgetränk der jungen Deutschen rund ums Millenium – eine Limonande aus vorwiegend kontrolliert-biologisch gewonnenen Rohstoffen. Die ebenfalls in Ostheim ansässige kleinste Tageszeitung Deutschlands begleitete natürlich diese Erfolgsgeschichte, die einem Griff nach den Sternen gleicht. Selbige scheinen hier tatsächlich besonders hell zu leuchten: Ostheim gilt als Sternenparkgemeinde.
„Lage, Lage, Lage!“ Das seien die drei entscheidenden Aspekte, behaupten die Immobilienmakler. Und Yvonne Pappe, Gästeführerin in Ostheim, lässt letztlich genauso durchblicken, dass Wohl und Wehe der „Perle an der Streu“ von der Lage abhängen und -hingen – von der Grenzlage. Als eine Schenkung ans Kloster Fulda im Jahr 804 erstmals urkundlich erwähnt durchlebte Ostheim eine wechselhafte Geschichte. Unter anderem berichtet Yvonne Pappe vom Einfall der kroatischen Armee während des Dreißigjährigen Kriegs, die das seit 1596 mit Stadtrechten ausgestattete Ostheim zwar geplündert, aber nicht zerstört habe – dank des Verhandlungsgeschicks des Bürgermeisters.
Die Bevölkerung hatte 1556 den evangelischen Glauben angenommen. So erklärt sich, warum Napoleon, der auf seinen Eroberungen gen Osten die deutsche Landkarte neu zeichnete, Ostheim zur Enklave des Herzogtums Sachsen-Weimar machte. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Ostheim in der amerikanisch besetzten Zone, wurde aber erst 1973 im deutsch-deutschen Grundlagenvertrag endgültig dem Freistaat Bayern zugeordnet.
Die Gästeführerin verweist ferner auf einen großen Stadtbrand Ende des 19. Jahrhunderts. Dennoch prägt bis jetzt die um 1400 durch das Hochstift Mainz „an der Friedenstraße zwischen Elbe und Rhein“ erbaute, 75 mal 75 Meter messende Kirchenburg das Bild. Eine reine Fliehburg mit 72 steinernen Gaden (einräumige Häuser) und 66 Gewölbekellern, keine Wohnburg sei sie gewesen. Unten im Ort habe es elf repräsentative Adelshöfe gegeben. Noch nicht einmal der Wachmann habe einen der vier Wehrtürme bewohnt, sondern den der Anlage vorgelagerten, etwas niedrigeren Wächterturm. „Bis 1939 war er von einer siebenköpfigen Familie genutzt“, merkt die Gästeführerin an.
Im Zentrum der Kirchenburg steht natürlich die Kirche. Die reformierten Ostheimer leisteten sich, noch bevor der große Glaubenskrieg sie erreichte, ein Gotteshaus mit Platz für rund 1.000 Personen. In einer Rekordzeit von nur vier Jahren wurde es bis 1619 fertig gestellt. Am Turm ganz oben hinterließen die Arbeiter ein Bild, mit dem sie das „roh’ Weib“ des Baumeisters verspotteten. Wie die Vorgängerkirche aus katholischer Zeit ist die neue dem Erzengel Michael geweiht. Der Hochaltar mit Figuren der Mutter Jesu und seines Lieblingsjüngers Johannes wurde ebenfalls übernommen. Die aktuelle Orgel stammt von Johann Ernst Döring von 1738. Ein Detail sorgt für Schmunzeln: Ein Engel setzt die Trompete an den Mund, wenn der Kantor das entsprechende Register zieht.
In Ostheim ist der Geschichte des Orgelbaus im Allgemeinen und der bis dato anhaltenden heimischen Produktion im Besonderen seit nunmehr über 25 Jahren ein eigenes Museum im Schloss Hanstein gewidmet. Ein Klangweg verbindet Kirchenburg und Orgelbaumuseum. Das ist schon von außen zu erkennen an riesigen Pfeifen an zwei Seiten, die vom Erdgeschoss bis zum Treppengiebel reichen. Das Hanstein’sche Schloss diente zuletzt als Krankenhaus, Flüchtlingsheim und Armenquartier.
Jörg Schindler-Schwabedissen leitet diese besondere Einrichtung, das anders als vermeintlich ähnliche eben nicht nur schöne Exemplare ausstellt, sondern deren Funktionsweise und Herstellung erklärt. Er selbst ist Klavierbauer und Organist. Sein Bruder Christoph hat hingegen Orgelbau gelernt und ist Mitinhaber der Ostheimer Fachwerkstatt Hoffmann & Schindler. Sein Meisterstück ist ein wichtiges Exponat: eine Kopie eines ihn von Kindheit an vertrauten Instruments mit sechs Registern, das sein Vater als Kirchenmusikdirektor in Sulzbach-Rosenberg spielte. Diese ist naturbelassen, also farbig nicht gefasst. „Die Ikea-Version“, scherzt Jörg Schindler. Das Original steht prächtig restauriert zum Vergleich direkt daneben. Der Nürnberger Nicolaus Manderscheidt fertigte es 1646 als Huldigungsgeschenk des Rats der Stadt Sulzbach für Herzog Christian August in der oberen Pfalz. Damit deckt das Museum die Epoche der Renaissance ab. Der „Wohlklang der Melodien“ sei das herausragende Ziel gewesen, heißt es auf einer Infotafel.
Die Anfänge des Orgelbaus liegen in der Spätantike. Eine Art Panflöte betrieb man über Blasebalge als „Wasserorgel“. Im kälteren Mitteleuropa, wo der Winter das Wasser zu Eis gefriert, musste eine andere Technik her: die Windladen. König Pippin der Kurze und Kaiser Karl der Große zählen zu den bedeutendsten Förderern in der Romanik und Frühgotik. 1287 fiel in Mailand die Entscheidung, in Gottesdiensten einzig die Musik der Orgel zuzulassen. „Zur Ehre Gottes und zur Ergötzung der Menschen!“, unterstreicht Jörg Schindler.
Fast wie in einem Wettstreit entstanden die größten Orgeln mit tausenden Pfeifen im Barock. Die wirtschaftlich lukrativste Zeit für den Orgelbau war aber wohl wegen den Zerstörungen in den beiden Weltkriegen die 1950er- und 1960er-Jahre. 1913 hatte G. F. Steinmeyer & Co. in Öttingen die pneumatische Orgel erfunden.
An Klaviatur und Traktur dürfen Kinder und selbstverständlich auch Erwachsene die Instrumententechnik und sich selbst ausprobieren. Verblüffend, dass sogar eine Rolle aus Karton, in der bunte Schokolinsen verkauft werden, als Orgelpfeife taugt. Angemessenen Raum räumt das Museum schließlich auch den Verwandten der Orgel wie Drehorgel sowie Cembalo, Klavier und Flügel ein. Dem Harmonium – egal ob Druck- oder Saugwindharmonium – als völlig eigenständigem Instrument ist gar eine ganze Abteilung gewidmet. Wohl am meisten staunen die Besucher allerdings vor einer Deutschlandkarte, auf der mit Leuchtpunkten markiert ist, wohin überall die verschiedenen Ostheimer Orgelbaubetriebe ihre Arbeiten lieferten. Siehe da – nicht nur Hunger- und Durststiller, sondern auch der eine oder andere Ohrenschmaus daheim haben ihren Ursprung in Ostheim vor der Rhön.
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