von Hermann Sendelbach (1894-1971)
Immer wieder bat ich die Mutter, mich ganz gewiß nicht verschlafen zu lassen, und fiebernd von der genossenen Freude und mehr noch von dem erwarteten Glück sank ich in traumverfangenen Schlaf. Als sie aber kam, mich zu wecken, waren die drei Stunden, ich mir zuvor so endlos schienen, zum Augenblick zusammengeschrumpft, und aus der bunten Wirrnis des Traumes rang ich mich nur mühsam empor. Dann entsann ich mich wieder der heiligen Nacht, der großen Verheißung, und alle Schläfrigkeit verflog.
Ich trat in die sanft erhellte Stube. Da lagen noch die Geschenke gebreitet, da blitzte der Christbaum, da roch es nach Harz und nach Pfeffernüssen, und alles Weihnachtsglück kehrte wieder. Es polterte an der Haustüre, Gregor, der Freund, kam hereingestapft, die Mütze über die Ohren gezogen, die lange, dicke Wollbinde ein paarmal um den Hals geschlungen, große Fäustlinge an den Händen. Mäntel kannten wir Buben nicht. Gregor wollte mich abholen zum Mettegang nach Mariabuchen, wie er es versprochen hatte. Denn was wir nicht gemeinsam erlebten, erschien uns nur als minderes Glück.
Es dauerte uns viel zu lange, bis die Mutter fertig war. Sie trat zuvor noch an Annalas Bettchen, dann entzündete sie die kleine Laterne. Wir aber standen schon an der Türe, scharrten und trippelten ungeduldig. Der Vater, der das Haus hüten mußte, saß auf der breiten Ofentruhe. Neben ihm lag ein großes Buch, die Heiligenlegende. Er wollte die Zeit des Metteganges im Gebete verbringen, und sein Gesicht trug den Abglanz des Ernstes, der schon sein Herz erfüllen mochte.
Wir tauchten in die weihevolle Kühle der Nacht. Hinter uns verschloß der Vater die Tür mit dem Riegel. Fast fremd erschien mir heute der Hof zu dieser ungewöhnlichen Stunde. Im Stall erwachten einige Tiere, Ketten klirrten, ein Muhruf ertönte. Die Mauer entlang flog der Schein des Laternchens, er huschte über die Latten am Zaun und über die Pfosten, die dicke, glitzende Mützen trugen.
Scharf knirschte der Schnee unter unseren Schritten, das Licht betastete suchend den Weg, traf manchmal den schwarzen Stamm eines Obstbaumes. Wir Buben liefen ein Stückchen voraus, von dem Ehrgeiz erfüllt, den Pfad auch ohne Laterne zu finden. Und bald schon gewöhnten die jungen Augen sich an das milde Leuchten der Nacht, das aus der Reine des Schnees emporstieg und von den Sternen herniederfloß. Da sahen wir die Felder gebreitet in weißem Schweigen und drüben den dunklen Streifen der Wälder. Die Sternenfülle, die Feierlichkeit, die große Stille berührten selbst unsere Bubenherzen, die keckgewohnten, mit einem unbekannten Ernst. Vor und hinter uns auf dem Wege schwebten und tanzten geheimnisvoll die Lichtlein der anderen Mettegänger, verschwanden und erschienen wieder, tauchten in die Wegschlucht des Waldes.
Schwer bogen sich die Äste der Fichten, der Schein der Laterne streifte darüber und weckte ein Funkeln in Schneekristallen. Bisweilen löste sich eine Last, wallte als glitzender Schleier nieder und überstäubte uns mit Kühle. Es rauschte manchmal aus Schattentiefen, vielleicht ein Vogel, vielleicht ein Wild, das erschrocken aufsprang, – vielleicht das Christkind oder ein Engel, dessen Flügel die Zweige streiften. Wir lauschten herzstill, und als der Weg sich talwärts senkte, stürmten wir nicht wie sonst mit Jauchzen, sondern stapften gezügelt weiter. In unsagbarer Verzauberung lag zwischen den unermessenen Wäldern und unter dem Sternengewoge das Tal.
Auf geländerlosem, steinernem Steg überschritten wir behutsam den Bach, der unter dem dünnen Eise gluckste. Drüben der Anstieg zur halben Höhe des Buchenberges unterwarf die drängende Ungeduld einer letzten Probe. Dann winkte die weiße Klostermauer, dann grüßte uns Glanz aus hohen Fenstern. Sanft fiel der Schein auf den wolligen Schnee. Der kleine Kirchplatz lag traumhaft da und die mächtigen Linden in Schneevermummung standen wie getreue Wächter. Es zitterten andere Lichtlein hervor aus dem Waldesdunkel, Wegweiser der Mettegänger aus Rettersbach und der Buchenmühle.
Die Pforte tat sich auf, das Licht sprang uns an und blendete die der Nacht gewohnten geweiteten Augen. Die Mutter hatte das Lämpchen verlöscht, – was sollte es noch in all dem Glanze? Leise zupfte ich sie am Ärmel und deutete nach dem Kripplein hinüber mit dem Stall und den Hirten, den weidenden Schafen zwischen den Felsen, dem großen Stern und den jubelnden Engeln. – Die Altäre strahlten in Kerzen und Blüten, und im goldenen Schrein die Gnadenmutter schien nicht schmerzhaft heute, sondern getröstet und beseligt. Es wob aber trotz all der Lichter in dem hohen Raum ein geheimnisvolles Dämmern, aus dem in jedem Augenblick die Engel hätten niederschweben und singen und musizieren können.
Da fing feierlich die Orgel an zu tönen, und es sangen die Leute, und es sang meine Mutter mir zur Seite mit ihrer reinen, klaren Stimme: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart …“ Der Priester mit bartumrahmten Gesicht, vier Ministranten in rotweißen Röcklein und zwei dienende Kapuzinerbrüder umwandelten würdig den Altar, Weihrauch wölkte, heiliger Wechselgesang ertönte, gebreitete Arme schenkten Segen, den ich in mein Herz sinken fühlte wie beseelenden Tau. Ich schaute und schaute, ich betete kaum, ich war selbst Gebet, das nichts begehrte inmitten des Wunders und der Erfüllung.
Aufseufzend sah ich das Ende der Feier. Die Mutter entzündete neu das Laternchen, und unter dem Abschiedsbrausen der Orgel tauchten wir tastend zurück in die Nacht, ins vertieftere Dunkel, an das die nun lichtgesätigten Augen sich nur langsam wieder gewöhnen wollten.
Als wir heimwärts stapften, kam es wie Mitleid in unsere Herzen, Mitleid mit den Tieren des Waldes, weil sie an dem Glanz und der Freude, die wir zuvor empfangen hatten, nicht teilhaben durften. Aber es tröstete uns der Glaube, daß in der heiligen Mettestunde auch zu ihnen das Christkind komme, daß ein Licht erglühe inmitten des Waldes, in seinem Umkreis Blumen erblühten, und von Wärme umhaucht die Tiere mit gelösten Zungen den Heiland lobpreisen.
Dann öffneten sich die Felder wieder und es winkten vertraut die Lichter des Weilers aus der großen Nacht. Am Schulzentor verließ uns Gregor, und anders als sonst klang heut sein Gutnachtgruß. Da war auch schon das Vaterhaus mit seinem freundlichen weißen Giebel, und aus dem Fenster strahlte der Christbaum mit all seinen Kerzen zu unserm Willkomm. Der Vater, der den Riegel zurückschob, trug die Weihe inneren Erlebens im stillen Gesicht. Die Mutter gab mir den Weihwassersegen; dann sank ich müde, doch voll des Glückes, zum zweiten Male in dieser Nacht, ins wohlige Bett, das noch ein wenig der ersten Wärme geborgen hatte, und fiel auch gleich in verzauberten Schlaf.
Aus: Kind zwischen Wäldern
1976, Hohenloher Druck- und Verlagshaus Gerabronn-Crailsheim
Herzliches Dankeschön an die Südwest Presse Crailsheim mit dem Hohenloher Tagblatt als Rechtsnachfolgerin des 2017 aus dem Handelsregister gelöschten Hohenloher Druck- und Verlagshauses für die freundliche Erlaubnis der Veröffentlichung des Textes.