Die Europastadt Röttingen lädt ein zu Wein und Festspielen und auf den Sonnenuhrenweg
Nicht vergessen: Am letzten Sonntag im Oktober, heuer am 30., endet die Sommerzeit. Nachts um drei werden die Räderuhren für eine Stunde angehalten. Mit dem ersten Licht am folgenden Morgen „ticken“ auch sämtliche 23 Sonnenuhren des Tauberstädtchen Röttingen wieder richtig. Wer’s kontrollieren will, muss nur gut zwei Kilometer zurücklegen, um alle Zeitmesser aufzusuchen. Bei den meisten hat der Konstrukteur allerdings vorgesorgt; sie zeigen sowohl die Normal- als auch die Sommerzeit an – auf sie ist allzeit Verlass.
Die Sonne ist der Taktgeber unserer Zeit. Unser Körper orientiert sich am Sonnenstand. Durch die Zeitumstellung können wir von Ende März bis fast Anfang November am (Feier-)Abend die Sonne länger genießen. Die seit 1980 geltende Regelung hat eigentlich wirtschaftliche Gründe. Genaugenommen geht sie auf die Ölkrise von 1973 zurück: Je länger es hell bleibt, umso weniger elektrisches beziehungsweise künstliches Licht wird gebraucht. Das war schon die Überlegung des deutschen Kaisers, als er 1916 mitten im Ersten Weltkrieg seinem Land die erste Sommerzeit verordnete.
Eine einschneidende Reform hatte es bereits 1893 gegeben, als die Mitteleuropäische Zeitzone eingeführt wurde: gleiche Zeit von Amsterdam bis Budapest im längst angebrochenem Zeitalter des völkerverbindenden Eisenbahnverkehrs. Bis dahin orientierte man sich überall am jeweiligen Sonnenhöchststand. Zwischen Würzburg auf dem 10. Längengrad und Görlitz auf dem 15. erfolgte das Zwölf-Uhr-Läuten im Abstand von 20 Minuten.
Untrügliches Licht
Hinzu kommt, dass die eliptische Umlaufbahn der Erde Zeitverschiebungen bedingt. Unsere heutigen Zeitangaben sind „ausgemittelte“ Werte. Einzig eine Sonnenuhr geht ganz präzise.
Seit bald vier Jahrzehnten kann sich die südlichste unterfränkische Stadt, Röttingen mit rund 1700 Einwohnerinnen und Einwohnern, rühmen, außer Weinstadt, Europastadt, Kinderstadt und Festspielstadt auch Sonnenuhrenstadt zu sein. Am Pfingstsonntag 1984 wurde hier der Sonnenuhrenweg eröffnet. Er verläuft entlang der mittelalterlichen Stadtmauer und der Hauptstraße sowie quer über den Marktplatz. So kann man auf der Tour ganz nebenbei sämtliche Sehenswürdigkeiten wie Burg, Wehrtürme, Kirchen, Rathaus und Spital „mitnehmen“. Alle können dabei etwas Interessantes entdecken. Mädchen und Jungen können sich selbst bei Regen vergnügen – in der Spielscheune; sie ist täglich von 9 bis 19 Uhr kostenlos zugänglich, sie wurde vom heimischen Kindergärtenausstatter Eibe eingerichtet.
„Ohne Sonne schweige ich“, verrät eine Aufschrift auf einer der Uhren. Zu Spitzenzeiten waren es rund 30 Stück, aktuell werden 23 präsentiert.
Gestalterische Vielfalt
Sämtliche Röttinger Sonnenuhren fertigte der Schlossermeister Kurt Fuchslocher aus den unterschiedlichsten Materialien. Bei der einen verwendete er alte Fliesen, bei der nächsten Metallschrott und bei einer weiteren feinsten Edelstahl. Keine gleicht der anderen. Fuchslocher kann seine Werke nicht mehr selbst instand halten; 2010 starb er 88-jährig.
Beruflich war der passionierte Gnomontiker (= Sonnenuhrentechniker) als Kompenseur bei der Bundeswehr tätig . Er wartete und entmagnetisierte die Kompasse in den Hubschraubern auf dem Heeresflugplatz in Niederstetten. Im 1975 angetretenen Ruhestand widmete er seine Zeit ganz und gar der Zeitmessung durch das Licht, das letztlich der Schatten erst sichtbar macht. „Das war sein Leben. Wenn seine Tüfteleien funktionierten, war er glückselig“, beschreibt Altbürgermeister Günter Rudolf die außergewöhnliche Person. Rudolf amtierte von 1974 bis 2008. Er sagt: „Da musste ich nicht lange überlegen, als Kurt Fuchslocher eines Tages im Rathaus anklopfte und nach einer Möglichkeit suchte, seine technisch ausgefeilten Geräte auszustellen.“ Beispielsweise ist eine Kugelsonnenuhr mit verschieden langen Stiften gespickt; diejenige der erhabenen Stundenmarken, die gerade den kürzesten Schatten wirft, gibt die gültige Uhrzeit an.
Im 20 Kilometer nahen Bad Mergentheim, wo Fuchslocher damals wohnte, war er auf taube Ohren gestoßen. Die Stadt Röttingen stellte ihm hingegen eine kleine Werkstatt zur Verfügung und bekam – wie Günter Rudolf berichtet – die Uhrensammlung mehr oder weniger geschenkt; sofern Neuteile verbaut werden mussten, seien diese selbstverständlich bezahlt worden.
Jederzeit lohnend
„Ein Jegliches hat seine Zeit“, ist auf der Sonnenuhr unmittelbar an der Brücke über die Tauber vermerkt. Und auf der Rückseite erfahren die Gäste: „Heute ist die beste Zeit.“ Soll heißen: Den staatlich anerkannten Erholungsort Röttingen an der Romantischen Straße zu besuchen, lohnt sich jederzeit. Eingebettet zwischen Bergen, Wäldern und Wiesen siedelten hier schon Menschen in der Bronzezeit. Weinbau betreiben sie wohl seit dem 11. Jahrhundert. 1103 wurde der Ort erstmals urkundlich erwähnt. Aus dem 13. Jahrhundert stammen die ersten schriftlichen Belege für die Burg Brattenstein und für die Pfarrkirche „St. Kilian und Gefährten“. 1275 erhielt Röttingen Stadtrecht. 70 Jahre später gelangte es in den Besitz des Hochstifts Würzburg; der fürstbischöfliche Amtmann nahm seinen Sitz auf der Burg. Das spätgotische Rathaus am Marktplatz wurde 1750 durch ein schmuckes barockes ersetzt. Es trägt das Wappen des seinerzeitigen Bischofs Karl Philipp von Greiffenclau, das der Freiherren von Zobel und das der Stadt – den heiligen Georg in silberner Rüstung mit goldener Lanze und rotem Kreuz.
Vor dem Gebäude dominieren die Farben Blau und Gelb. Sie erinnern daran, dass die vom Gemeinschaftsgeist beseelte Bevölkerung ihr Röttingen 1953 zur ersten Europastadt proklamierten. Und im Rathaus? Da kann zu den Öffnungszeiten unter anderem das 23. der 23 Exponate auf dem Sonnenuhrenweg besichtigt werden.
| Fotos: B. Schneider