Niemand beendet eine Führung in der Kirchenburg von Aschfeld (Lkr. Main-Spessart), ohne ein Himbeerbonbon gelutscht zu haben. Sich die rote Süßigkeit aus dem bauchigen Glas im Krämerladen zu nehmen, sei Pflicht. So schärft es Lore Göbel, die Betreuerin des dorfgeschichtlichen Museums, den Gästen ein. Bei den meisten entfaltet sich auf der Zunge ein fruchtiger Geschmack, den die Synapsen im Gehirn zielsicher mit Kindheitserinnerungen verknüpfen. Die Jungen erfahren, was schon ihren Eltern und Großeltern Glücksmomente bescherte. Ein Besuch in den zum Ort hin fensterlosen Häusern, die man als Gaden bezeichnet, und in den darunter in den Muschelkalk gehauenen Kellern gleicht einer kurzweilig moderierten Zeitreise durch die Generationen.
Lore Göbel besitzt nicht alleine die Lizenz, die reiche volkskundliche Sammlung eines der ehemals ärmsten Dörfer der Gegend in den einfühlsam sanierten Gebäuden rund um die barocke St.-Bonifatius-Kirche zu präsentieren. Aber sie ist gewissermaßen die Gründungsmutter der sehenswerten Einrichtung. Sie weiß verblüffende „G’schichtli“, die sich niemand ausgedacht haben kann, die wirklich passiert sein müssen.
Diese Frau als frühere Gemeindesekretärin zu betiteln, würde ihrer Rolle nur unzureichend gerecht. Jahrzehnte war sie die rechte Hand des jetzigen Altbürgermeisters Herbert Schneider. „Und auch die linke“, scherzt sie. Schneiders Nachfolger mit demselben Nachnamen habe sie noch „angelernt“, bevor sie im Jahr 2000 offiziell in den Ruhestand trat. Wohl eher Unruhestand. Beiläufig erwähnt sie, dass sie seitdem rund 1.400 Führungen in der Kirchenburg gehalten hat. Inzwischen 83-jährig und verwitwet organisiert sie noch immer die unterschiedlichsten Veranstaltungen – meist mit „ihrer“ Musikkapelle, die sie ursprünglich für Seniorentreffen formierte. Einer der Höhepunkte im Zusammenhang mit der Kirchenburg wird heuer die 25. Teilnahme am Tag des offenen Denkmals am zweiten Sonntag im September sein.
Es scheint leichter eine Antwort darauf zu geben, wo Lore Göbel nicht beteiligt ist, als umgekehrt. Sogar Standesbeamtin war sie. Sie beharrt: „Die von mir geschlossenen Ehen sind alle heil!“ Weil der Chef Termine in München hatte, war sie an einem Tag dreimal gefordert: „Bei jeder Zeremonie gab’s eine frische Flasche Sekt …“
Hochzeitsnacht im Wehrturm
Den bürgerlichen Bund fürs Leben können die Liebenden in Aschfeld auf ungewöhnlichem historischen Terrain schließen: in der Darlehenskasse. Der sogenannte Rechner wickelte seinerzeit die Bankgeschäfte in der Regel sonntags nach der Messe daheim im Wohnzimmer ab. Anstelle der eifrigen Sparer dürfen jetzt die Heiratswilligen auf dem mit rotem Samt bezogenen Sofa Platz nehmen. Klar, dass hier auch ein Bräutigam sein Eheversprechen gab, der seine Erwählte erstmals in der Kirchenburg gesehen hatte. Lore Göbel gewährte ihm zudem den Wunsch nach der Hochzeitsnacht in der Anlage. Warum er die Bettstatt ausgerechnet im Wehrturm aufschlug, wo die Spieße und Hellebarden verwahrt werden, wurde nicht hinterfragt.
Im Zusammenhang mit einem 1296 gegründeten Beginenkloster wurde der befestigte Kirchenumgriff schon genannt. Letztmals belagert wurde die Aschfelder Kirchenburg im Dreißigjährigen Krieg. Die Feinde konnten sie diesmal ebenso wenig wie jemals zuvor erstürmen. Den Ort legten sie jedoch in Schutt und Asche. Marodierende Haufen trieben sich öfters herum; in der Nähe kreuzten sich die Heerstraße von Fulda über Hammelburg nach Würzburg und die „Birkenhainer“, der alte Handelsweg in West-Ost-Richtung.
Initiative zur 1200-Jahr-Feier
1981 blickten die Aschfelder auf das 1200-jährige Bestehen ihres Ortes zurück. Ehrenbürger Hans Beier hatte die Idee, aus diesem Anlass in einem leerstehenden Gaden eine Heimatstube einzurichten. Lore Göbels Bruder, der Lehrer Wolfgang Kaufmann, der bereits erwähnte Bürgermeister Herbert Schneider und eben Lore Göbel nahmen dies in die Hand. Seitdem hat die Gemeinde von den Eigentümern nach und nach alle 19 Teil-Anwesen der Kirchenburg in Erbpacht erworben und mithilfe von Sponsoren bzw. von für Gotteslohn tätigen Handwerkern weitere Museumsräume gestaltet: archäologische Fundgrube, Schule, Sakristei, Wirtshaus mit Poststelle, Brennerei, Büttnerei, Schmiede, Wagnerei, Schusterei, Schneiderei, … Sogar eine Auskunftei für „dos un sall“ (dieses und jenes).
„Eine meiner drei Garagen war immer der Sammelplatz für die nächste Neueröffnung“, erklärt Lore Göbel. „Die meisten Ausstellungsstücke habe ich im Anschluss an Führungen geschenkt bekommen.“
Vorgänge der Reinigung
Den Gaden der eigenen Familie hat Lore Göbel als Wasch- und Schlachtküche ausgestattet. Wenn die im Herzen junggebliebene Dame hier die Gedanken schweifen lässt, wird sie leger: „Im Inhalt eines einzigen Waschkessels haben der Reihe nach sämtliche Kinder gebadet, Vater und Mutter, Opa und Oma. Dann wurden die Socken durchs Wasser gezogen und die Stube rausgewischt. Mit dem Rest wurde der Garten gegossen. Da konnte man sicher sein, dass das keine Blattlaus überstand.“
Apropos Reinlichkeit und Gesundheit. Dafür und noch für mehr war im Dorf der Bader zuständig. Er hat Haare geschnitten, Bärte rasiert, Zähne gezogen, den Blutdruck gemessen, Sitzbäder eingelassen, eingewachsene Zehnägel begradigt, Hühneraugen entfernt, Babys entbunden und den Kühen beim Kalben geholfen. Aus dem Nachlass ihrer Tante Emma, die als 18-Jährige 1928 nach Amerika ausgewandert war und es zu Wohlstand gebracht hatte, finanzierte Lore Göbel den letzten Raum des seit 2002 immer wieder sogar von Flusskreuzfahrern auf Landgang bewunderten volkskundlichen Komplexes.
Die Besichtigungen finden dramaturgisch durchdacht im Zentrum der Anlage, in der katholischen Kirche, ihren Abschluss. Lore Göbel hat mitbekommen, dass Aschfelder Männer auswärts im Kloster Schönau bei Gemünden gebeichtet haben – womöglich das maßlose Naschen von Himbeerbonbons, ganz gewiss aber ihren starken Alkoholgenuss. Als einer von ihnen nach dem Empfang der Absolution erneut angetrunken angetroffen worden sei, habe er gesagt: „Aus Versehen habe ich einen Rausch zuviel bekannt. Den hol’ ich jetzt nach.“
Kontakt unter 09350 379 oder goebel-lore(at)t-online.de.
Zum Schutz der Landbevölkerung
Nur Städte durften rundherum mit Mauern gesichert werden. Auf dem Lande im kleinstrukturierten Franken waren die Gotteshäuser oft die einzigen ganz aus Stein errichteten Gebäude. Die Dorfbewohner suchten bei Angriffen in der Kirche Schutz, befestigten sie wie eine Wehr- oder Fliehburg und legten Vorratskammern für den Belagerungsfall an. Der Bezirk Unterfranken hat dazu in Zusammenarbeit mit dem Amt für ländliche Entwicklung eigens eine Wanderausstellung konzipiert. (Näheres unter 0931 4101-570.)
Die Anlage in Ostheim vor der Rhön mit ihren fünf Türmen, sechs Bastionen und 66 Gewölbekellern gilt als die größte Kirchenburg Deutschlands (www.ostheimrhoen.de/kirchenburg-mit-museum.html); ein kurzes Stück die Straße hinab befindet sich im Schloss Hanstein ein einmaliges Orgelbaumuseum. In Mönchsondheim im Kitzinger Land bergen die sogenannten Gaden, wo die Bevölkerung ihr Hab’ und Gut lagerte, ein Kirchenburgmuseum mit regelmäßiger Öffnung(www.kirchenburgmuseum.de); das dörfliche Handwerk und der Weinbau bilden Schwerpunkte der Dauerausstellung. Wovon und wie die Menschen in einer von Landwirtschaft geprägten Gemeinde lebten, wird analog in der Kirchenburg von Aschfeld im Bachgrund nordwestlich von Arnstein dargestellt (www.eussenheim.de/seite/de/gemeinde/46/-/Historische_Kirchenburg.html). Die Masse an Exponaten aus der noch jungen Vergangenheit bis etwa zur Zeit des Wirtschaftswunders und die ausgesprochen kurzweiligen Führungen machen hier den ungewöhnlichen Charme aus. Ausflüglern bietet sich in den Nachbarorten Hundsbach und Obersfeld, die wie Aschfeld zur Gemeinde Eußenheim gehören, eine nahe Einkehrmöglichkeit oder bei Gössenheim an der Homburg, einer der größten Burgruinen Deutschlands; sie ist frei zugänglich.
Die Berichterstattung ist hervorragend und auch die wunderschönen Fotos!
Dies ist eine große Reklame für unsere Kirchenburg.
Ganz herzlichen Dank und liebe Grüße!
Lore Göbel
Der Bericht über die Kirchenburg ist so wunderbar geschrieben, dass ich ihn schon wieder lesen musste, obwohl ich die Kirchenburg in- und auswendig kenne.
Hier ist das „Brautpaar”. Ja, Frau Göbel hat die richtigen Worte über den tollen Bericht getroffen. Die Kirchenburg ist wirklich einen Besuch wert!