Nichts liegt näher, als in Zeiten des Neun-Euro-Tickets „die“ unterfränkische Eisenbahnstadt in den Blick zu nehmen: Gemünden. In den nächsten Wochen wird man hier allerdings vor allem in den Abendstunden froh sein um jede Pause, wenn keinerlei Fahrzeug auf den Schienen vorbeirumpelt und nichts den Kulturgenuss stört. Bis 21. August laufen auf der Scherenburg die gleichnamigen Festspiele. Die Gemündener benannten das ihnen Sicherheit bietende Bauwerk nach dem Würzburger Fürstbischof, der sich als großer Förderer erwies.
Etwas oberhalb der heutigen Burgruine erhob sich die Slor-, Flor- oder Slosburg. Für die Bezeichnung gibt es keine Erklärung. Wann und warum sie geschliffen wurde, liegt ebenfalls im Dunkeln. Die erste Urkunde befasst sich 1243 mit Besitzansprüchen: Bischof Hermann I. von Lobdeburg schloss als Regent in Würzburg einen Vergleich mit Gräfin Adelheid von Rieneck. Demzufolge wurden zwei Drittel der Burg und die Hälfte der „Villa Gemunda“ der Lehensherrschaft des Hochstifts unterstellt. Die Stadt war aus einer Fischersiedlung entstanden, wo Sinn und Saale in den Main münden. Seit der bayerischen Gebietsreform vor fünf Jahrzehnten kann sich Gemünden gar „Vier-Flüsse-Stadt“ rühmen dank der „Eingemeindung“ der Wern.
2020 wollte Gemünden sein 777-jähriges Bestehen begehen – und noch eine Reihe weiterer Jubiläen. Doch Corona verhinderte große Feierlichkeiten.
Ganz und gar würzburgisch
1342 wurde zum ersten Mal jene Burg erwähnt, die später den Namen des Rudolph von Scherenberg tragen sollte. Dieser Bischof löste Burg und Stadt 1469 komplett aus und schuf eine Grenzbastion Grenzbastion; die Scherenburg sollte bis 1598 Sitz des Würzburger Amtmanns bleiben. Bischof Rudolf sorgte 1488 auch für eine neue prächtige Pfarrkirche. Schon die Vorgängerin von 1304 war den Aposteln Petrus und Paulus geweiht.
Unter Bischof Konrad II. von Thüngen errichteten die Gemündener 1540 die erste steinerne Brücke; mit 13 Bogen überspannten sie die Mainzuflüsse. Mittlerweile existieren im ganzen Stadtgebiet sage und schreibe 18 Brücken. Obwohl aus Stein gebaut, konnte jene Saalebrücke nicht lange den Naturgewalten standhalten: Schon 1613/14 wurde sie unter Bischof Julius Echter von Mespelbrunn erneuert. Das bislang höchste Hochwasser überspülte diese 1784. Die Katastrophen konnte auch der heilige Johannes von Nepomuk nicht abwenden. Der wohlhabende Amtskeller Johann Philipp Franz Heinrich von Schönrain stiftete 1711 ein kunstvolles Standbild des Brückenpatrons.
Aktuell wacht eine Kopie der historischen Nepomuksfigur über die Passanten auf dem Stadtzugang. Im Frühjahr 2022 nistete sich gewissermaßen eine Untermieterin ein. Seither sitzt auf einem Absatz eines der Pfeiler eine liebreizende Frauengestalt mit Flosse. Der vorwiegend in Beton arbeitende Hobbykünstler Gert Pröschl hat sie modelliert. Kulturamtsleiterin Jasna Blaic und die inzwischen in den Ruhestand verabschiedete Stadtmarketing-Geschäftsführerin Else Platzer suchten für sie einen Namen aus und reimten: „Sieh’ wie Gemünda ins Wasser hinein und lass’ deine Sorgen fließen in den Main. Bedenke, dass wie das Wasser die Zeit verrinnt und nur durch die Liebe das Leben gelingt.“
Reichlich Wein und Bier
Kuss und Genuss am Fluss?! Bezeichnend, dass das älteste Schriftstück im Stadtarchiv das Wirtsbuch von 1619 ist. In dem hier bereits aufgelisteten Gasthof „Zum Koppen“ trank drei Jahrhunderte später der Schriftsteller, Kabarettist und Maler Joachim Ringelnatz nach eigenen Angaben „der Kellnerin Therese zuliebe 15 Schoppen“. Kreisheimatpfleger Bruno Schneider berichtet von einst ausgedehnten Rebhängen. Augenzwinkernd nennt er die offiziell in Abgabeverzeichnissen vermerkten 170 000 Liter Wein. Wer weiß, welche Mengen nebenher für den Eigenbedarf gekeltert wurden …
Reich an Anekdoten ist die „Lokal“-Geschichte. Es ist belegt, dass die evangelischen Christen sich ab 1895 zum Sonntagsgottesdienst im Tanzsaal des Hotels „Deutscher Kaiser“ trafen. Um nicht mehr mit den „Gräuel der Verwüstung von der vorangegangenen Nacht“ konfrontiert zu werden, weihten sie 1910 die eigene Christuskirche ein.
Als Würzburger Internatsschüler aus Fellen war Bruno Schneider ursprünglich fürs Priesteramt auserkoren, entschied sich allerdings für den Lehrerberuf. Froh ist er, dass er sich nie mit Problemen auseinandersetzen musste wie die Gemündener Pädagogen 1930: Mancher Bürger protestierte dagegen, die Volksschule zu erweitern in Richtung eines schon vormittags gerne frequentierten Biergartens; sie hatten Bedenken, sich in ihrer Lautstärke einschränken zu müssen.
Die sprichwörtliche bayerische Gemütlichkeit kehrte offensichtlich in Gemünden ein beim Anschluss 1803 zunächst ans Kurfürstentum und dann ans Königreich Bayern. Damals wurden wahrlich Weichen gestellt. 1835 erwarb der königliche Landphysikus Dr. Heinrich Leonhard Ronkarz um 52 Gulden den äußeren Schlossgarten und ließ nach oberitalienischem Vorbild Terrassen mit einem Höhenunterschied von 40 Metern anlegen. Im Rongarzgarten befindet man sich in der Stadt über der Stadt.
Auf und ab und wieder auf
Von 1836 bis 1838 entstand das repräsentative Landgerichtsgebäude. Das Amtsgericht ist die letzte bedeutende staatliche Einrichtung in der ehemaligen Kreisstadt. Stark gelitten hat auch die Funktion Gemündens als Verkehrsknoten. Der Aufstieg begann mit der Eröffnung der Ludwig-West-Bahn 1854. Die Eisenbahn wurde der Stadt 1945 jedoch zum Verhängnis. Heimatpfleger Schneider erklärt, dass die Engländer bei der Bombardierung am 26. März die Bahnlinie lahmlegen wollten, aber schlecht zielten und dadurch zahlreiche Häuser trafen. Nach zweitägigem Panzerbeschuss am 4. und 5. April durch die Amerikaner lag die Stadt vollends in Trümmern. Weitere Schneisen wurden geschlagen, zum Beispiel die bis dahin nicht vorhandene Scherenbergstraße, an der 1956 das neue Rathaus als Symbol für den gelungenen Neuanfang seiner Bestimmung übergeben wurde.
„Nach dem Zweiten Weltkrieg passierte alle fünf Minuten ein Zug die Stadt. Der Bahnhof hatte an die 1200 Beschäftigte“, betont Bruno Schneider. Wenig bis nichts sei von diesem Personalaufgebot übrig. Verschwunden ist ferner das in den 1980er-Jahren im Huttenschloss eingerichtete Unterfränkische Verkehrsmuseum. Immerhin bestand hier 2020 das Film-Foto-Ton-Museum seit 20 Jahren. Im gleichen Jahr hätte das 70. Kirchweih- und Heimatfest stattfinden sollen, wenn sich nicht das Coronavirus verbreitet hätte. Eine Neuauflage stand heuer, weil der Festwirt sich zurückzog, auf der Kippe. Aber die Gemündener verpflegten sich und ihre Gäste kurzerhand selbst. Am zweiten Tag mussten sie das Fest zugunsten eines anderen vorzeitig nach dem Mittagessen beenden: Ministerpräsident Markus Söder hatte sich für den 3. Juli angekündigt, um die neue Festspieltribüne mit 650 Plätzen an der Scherenburg zu eröffnen. Auf die Bühne kommen in dieser Saison „Schneewittchen“ (Märchen), „Wie im Himmel“ (Schauspiel mit Musik) und „Cash – und ewig rauschen die Gelder“ (Komödie).
Währenddessen weht auf dem Scherenburgturm die Fahne in den Stadtfarben Rot, Weiß und Blau. „Die Abfolge ist wichtig“, erläutert selbstbewusst der Gemündener Bürger Bruno Schneider. Er macht damit den Unterschied zur umgekehrt gereihten russischen Flagge deutlich: „Bei uns kommen als Erstes Rot fürs Volk und im Zentrum Weiß für Gott. Und dann erst Blau für die Regierung.“
| Fotos: B. Schneider