Biologin Kornelia Marzini: Altes Wissen über Kräuter neu erwerben
Gegen alles – oder besser: für alles – ist ein Kraut gewachsen. Auf die Heilkraft der Pflanzen aus Gottes Schöpfung vertrauen wir Christen, wenn wir zu Maria Himmelfahrt Würzbüschel binden und sie im Gottesdienst segnen lassen. Die Biologin Kornelia Marzini von der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau in Veitshöchheim hofft, dass sich das weitgehend verschütt gegangene Volkswissen aufgrund des aktuell wachsenden Umweltbewusstseins wieder verbreitet – sofern sich jeder einzelner aktiv darum bemüht.
Die modernen elektronischen Medien machen’s möglich, Frau Marzini, mittels Smartphone und Bestimmungs-Apps Blüten und Blätter zu fotografieren und sofort detaillierte Informationen über die Gewächse angezeigt zu bekommen.
Kornelia Marzini: Wir verlassen uns dabei auf die Schwarmintelligenz aus dem Netz. Wenn jemand die pflanzlichen Wirkstoffe wirklich nutzen will, sollte er sich ernsthaft und nachdrücklich damit befassen, was draußen in der Natur gedeiht. Wir müssen alte Erkenntnisse neu erwerben.
Also mal wieder die Standardwerke, beispielsweise von Hildegard von Bingen, rausgeholt!
Hildegard hat sehr gute wissenschaftliche Arbeit geleistet – jedoch mit großen Lücken. Was ihr nicht gefiel, hat sie ausgeblendet. So hat sie unter anderem die Bedeutung des Johanniskrauts nicht erkannt. Oder sie hat die Klette abgelehnt, die schon die Druiden zur Wundheilung verwendeten. Sie klassifizierte nach Wert: angeblich Unnützes und Nützliches. Es gibt aber kein Unkraut, sondern Pflanzen mit unterschiedlichen Wirkstoffen und folglich unterschiedlichen Einsatzgebieten. Sie zu bestimmen und anzuwenden, lernt man auf Kräuterführungen und -seminaren.
Wenn Sie gebeten würden, an Maria Himmelfahrt einen Strauß an den Altar zu bringen: Woraus würde er bestehen und warum?
Aus dem echten Labkraut, weil es die Elastizität der Blutgefäße fördert und verhindert, dass das Blut verklumpt. Aus dem Johanniskraut als Antidepressivum und für die Wundheilung. Dann würde die Klette dazugehören, sie beugt dem Wundbrand vor. Ferner die Schafgarbe zum Anregen der Verdauung und gegen Frauenleiden. Die wilde Karde zur Stärkung des Immunsystems. Der Dost oder Majoran gegen Magenverstimmung, Nasennebenhöhlenentzündung und ganz allgemein Bronchialkrankheiten. Die Königskerze als Hustenmittel. Aland gegen Pilzerkrankungen in der Lunge zum Desinfizieren der Atemluft; die geschnittene und auf dem Ofen ausgebreitete Wurzel riecht nach Veilchen. Und natürlich darf der Nelkenwurz nicht fehlen – bekannt als „Heil aller Welt“.
Das sind neun.
Genau genommen sind es dreimal drei. Die Potenz der heiligen Zahl „Drei“, der Kelten, die u.a. auf die Tageszeiten früh, mittags und abends verwies. Mit der Verbreitung des christlichen Glaubens wurde alles auf die biblische Zahl Sieben umgemünzt. Und weil die Menschen keine Jäger und Sammler mehr, sondern sesshaft waren, verlor sich manche gängige Praxis wie etwa die natürliche Geburtenregulierung: Der Nachwuchs sollte kommen, wenn genug zu essen da war – nach der Ernte. Die sogenannten Bettstrohkräuter werden im Juli/August reif, um auf eine komplikationslose Niederkunft vorzubereiten.
Gehen Sie selbst überhaupt in die Apotheke?
Selbstverständlich. Allerdings hole ich nur ganz spezielle Medikamente. Mit dem, was die Natur bietet, versuche ich den Anfängen zu wehren, sodass man erst gar keine Schulmedizin nötig hat. Wichtig ist eine gewisse Achtsamkeit innerhalb der Familie. Rechtzeitig das entsprechende Mittel zu reichen, war früher Aufgabe der Frauen. Nur weil sie sich auf den Umgang mit Kräutern verstanden, waren sie noch lange keine Hexen.
Wie sollte man (Heil-)Kräuter verabreichen?
Idealerweise als Wildgemüse frisch im Essen. Weiterhin als Heilmittel getrocknet – dann oft als Tee. Ebenso als alkoholischer Auszug oder bei Kindern lieber als Sirup; Zucker macht die bitterste Medizin schmackhaft. Alles bitte dunkel lagern. Daheim nennen wir das Wandschränkchen mit den verschiedenen Extrakten Tabernakel. Freunde erwarten bei ihrem Besuch, ein Schlückchen vorbeugend einnehmen zu dürfen. Schon durch die freundliche Zuwendung beginnt der Prozess der Heilung beziehungsweise Stärkung.
Was ist gesund und schmeckt obendrein auch noch?
Brennessel als Gemüse, gemischt mit Bärlauch. Und unbedingt sollte man den Giersch aus dem Garten aufessen – als Petersilienersatz oder angerichtet wie Spaghetti allio olio. Damit kann man gegen Rheuma und Gicht angehen; was sich in den Gelenken festgesetzt hat, wird über die Nieren ausgeschieden.
Sie müssten derzeit allerbester Stimmung sein. Der bayerische Landtag hat in rekordverdächtigem Tempo ein Gesetz für mehr Artenvielfalt – für Biodiversität – verschiedet. Das ist ja Ihre Hauptaufgabe, Samenmischungen zu entwickeln, die blühfreudig und beständig sind zum Wohl der Fauna wie der Insekten, Schmetterlinge und Vögel.
Wir arbeiten seit 1996 an dem Thema „Förderung der Biodiversität“ und blickten damit weit über den Horizont hinaus. Deshalb können wir heute funktionierende Mischungen auch vorlegen. Die aktuelle Entwicklung bestätigt unsere Arbeiten in vollem Umfang. Wir wagen heute wieder einen Blick über den Horizont und sehen, dass wir Neues kreieren müssen, damit wir den Herausforderung des Klimawandels gewachsen sind. Hierzu benötigen wir zukunftsweisend auch Pflanzen aus anderen Klimaregionen wie z.B. den östlichen Steppengebieten oder der nordamerikanischen Prärie. Viele dieser Pflanzen leben bereits in unseren Gärten. Derzeit arbeiten wir an neuen Mischungen und prüfen sie auf ihre Leistungsfähigkeit unsere Umweltprobleme lösen zu können.
Danke für die Einblicke!
Das Gespräch führte Bernhard Schneider.