In Deutschland ist die der Gegenreformation entstammende Lohrer Karfreitagsprozession in ihrer Ausstattung und ihrem Umfang einmalig; in anderen „Passionsorten“ sind längst nicht so viele traditionelle Figuren vorhanden. 12 der 13 bislang nur einmal im Jahr aufgebauten Stationen sind jetzt dauerhaft in der frisch geweißten Kirche des ehemaligen Kapuzinerklosters neben der Stadtpfarrkirche St. Michael öffentlich ausgestellt. Der Zeitpunkt liegt wesentlich in der Corona-Pandemie begründet.
Weil die Prozession heuer wegen staatlich wie kirchlich verordneten Kontaktbeschränkungen ausfallen musste, wollte Sven Johannsen, leitender Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft „12 Apostel am Tor zum Spessart” und stellvertretender Dekan des Dekanats Lohr, den Gläubigen wenigstens als Einzelpersonen die Möglichkeit der stillen Betrachtung einräumen beziehungsweise in einer wiederkehrenden Meditation Impulse geben. Dazu holte er den Kreuzschlepper, den Gekreuzigten, die Pieta und den als Sinnbild für die Auferstehung zu sehenden Jona, den der Wal nach drei Tagen wieder ausgespien hat, in den Mittelgang der Stadtpfarrkirche. Für das mit Korpus rund fünf Zentner schwere Kreuz fertigten heimische Handwerker eine neue Halterung, um es in der gleichen Position wie beim Zug durch die Straßen zu präsentieren. Sie brachten den gemarterten Jesus, der sich dem Willen seines Vaters unterwarf, im wahrsten Sinn des Wortes auf Augenhöhe mit den Menschen. „So war es möglich, dem Kreuz als neuralgischen Punkt der Prozession einen exponierten Platz – auch in der Kapuzinerkirche – zu geben“, erklärt Pfarrer Johannsen.
In der früher vor allem für Werktagsgottesdienste genutzten Klosterkirche hatte das Kruzifix zuletzt während des Jahres einfach nur an der Wand gehangen. Und die meisten anderen Prozessionsfiguren waren hinter Eisengittern weggesperrt. Nun beherrscht die lebensgroße Darstellung des Gekreuzigten den Altarraum – am Ende eines mit Gefangennahme, Verspottung, Geißelung, Kleiderberaubung und weiteren Passionsszenen gesäumten Leidensweg durch den Kirchenchor. Pieta und heiliges Grab flankieren den, der für die Sünden anderer starb. Sven Johannsen verdeutlicht: „Das Kreuz ist der Wendepunkt hin zu Stille, Nähe und Trauer. Die Stationen vorher sind von Gewalt, Bewegung und Dramatik geprägt.“
Noch nicht die endgültige Position haben die österlichen Symbole (letztes Abendmahl und Jona im Maul des Wals), zumal hierfür aktuell die passenden Podeste fehlen. Aber der Geistliche ist voll des Lobes und Dankes für das von vielen Ehrenamtlichen insbesondere aus dem Förderkreis für den Erhalt der Lohrer Karfreitagsprozession Geleistete.
Förderkreis-Vorsitzender Joachim Salzmann bedauert, dass bisher keine offizielle Eröffnung mit Andacht und Empfang für alle Helfer hat stattfinden können. Nichtsdestoweniger ist die Ausstellung ab sofort täglich von morgens bis abends bei freiem Eintritt zugänglich. Natürlich hofft er, dass mancher ergriffener Besucher dem derzeit rund 150 Mitglieder zählenden gemeinnützigen Verein beitritt. Kontakt: 09352 89200 und joachim@salzmann-lohr.de. Der Jahresbeitrag beträgt 12 Euro, Spenden sind jederzeit willkommen.
Den Gegenwert einer schönen Eigentumswohnung habe der Förderkreis seit seiner Gründung vor 18 Jahren aufgebracht, äußert sich Salzmann vielsagend, ohne eine konkrete Summe zu nennen. Angefangen habe alles damit, dass die Pieta, für die seine Frau Ingrid die „Patenschaft” übernommen habe, restauriert werden sollte. Künftig sollen noch zwei Fragmente und der gegeißelte, ehedem in der Obhut der Bader befindliche Christus fachmännisch hergerichtet werden.
Der Förderkreis sprang in die Bresche, wo in modernen Zeiten althergebrachte Strukturen bröckeln. Soll heißen: Die in der Spessartstadt tätigen Berufsgruppen hatten üblicherweise die Prozession organisiert und sich um „ihre“ jeweilige Figur gekümmert – beginnend mit dem letzten Abendmahl durch die Gastwirte, Büttner und Bierbrauer und so weiter. Beispielsweise gibt es die für die Gefangennahme Jesu ursprünglich mitverantwortlichen Seiler und Wagner längst nicht mehr. Andere Innungen sind inzwischen auf riesige Gebiete ausgeweitet und somit recht ortsfremd, nennen sich statt Schneider (zuständig für die Kleiderberaubung) nun Maßbekleidungshandwerk.
Weil die Obermeister die Figuren bei sich zu Hause verwahrten, diese Schätze nie an einem zentralen Ort versammelt waren, überdauerten sie Kriege, Plünderungen und Kulturkampf. Jetzt scheint es umgekehrt: Für die Zukunft der Prozession braucht’s die öffentliche Auseinandersetzung mit der Tradition und der Botschaft des Karfreitags.