Schlaraffenland der Kindheit

Die Öffnungszeiten und den Eintrittspreis bestimmen die Besucherinnen und Besucher. Wenn sich Gäste anmelden, und seien es nur zwei oder drei, schließt Andrea Meub im Haßbergdorf Friesenhausen in der Dalbergstraße 8 ihren originalgetreu aus dem letzten Jahrhundert erhaltenen Gemischtwarenladen auf – zum Anschauen, nicht zum Einkaufen.

Lina Schmidt, eine alleinstehende, zweifellos fleißige und – nach einem Sepiafoto von ihr zu urteilen – elegante Frau führte den Betrieb bis zu ihrem Tod 1976. Die Erbengemeinschaft verriegelte Fenster und Türen. Mehr als vier Jahrzehnte später erwarb Nachbarin Andrea Meub das Anwesen, sanierte das mehr als 300 Jahre alte Gemäuer, reinigte die Einrichtung und das Inventar. Zur 1200-Jahr-Feier des Ortes 2016 ließ Andrea Interessierte erstmals offiziell über die Türschwelle; auch ins Lager im oberen Stock und in Linas heimelige Wohn- und Schlafstube, wo noch ein Teddybär mit braunen Knopfaugen alle willkommen heißt.

Lina Schmidt war die letzte Krämerin von Friesenhausen.
Lina Schmidt war die letzte Krämerin von Friesenhausen.
Ware oder persönliches Eigentum der Krämerin? Auf jeden Fall ein Teddybär zum Verlieben.
Ware oder persönliches Eigentum der Krämerin? Auf jeden Fall ein Teddybär zum Verlieben.

Die meisten erinnern sich im Kaufladen unweigerlich ans Schlaraffenland ihrer Kindheit: Gläser mit Fruchtbonbons auf der aus damaliger Sicht unerreichbar hohen Theke. Die Waage mit dem langen Zeiger verrät aufs Gramm genau, was der Groschen wert ist.

Riesiges Sortiment

Die jetzige Eigentümerin klappt die Lasche eines Papiertütchens zurück. Vanillinzucker verströmt seinen süßlich sanften Duft. Weitere Backzutaten und andere fest verpackte Lebensmittel von Traditionsmarken und solchen, die längst vom Markt verschwunden sind, füllen Regale und Schubladen. Ebenso Seifen und Spülungen für die Körperpflege. Daneben einige Nachttöpfe – in Franken Botschamber genannt und eigentlich mit harten Ps zu schreiben. Ferner Scheuerpulver, Polituren und Bohnerwachs samt Besen, Bürsten und Putzlappen. Knöpfe, Kurzwaren und Flickzeug reihen sich in einer Tischvitrine aneinander. In einer Kiste türmen sich Sandalen. Baby- und Kinderkleidung hängt sauber auf Holzbügeln drapiert entlang eines quer durch den Verkaufsraum gespannten Hanfseils.

In zwei Duftnoten war das „Schaumbon“ (Shampoo) früher zu bekommen: Kamille und Veilchen.
In zwei Duftnoten war das „Schaumbon“ (Shampoo) früher zu bekommen: Kamille und Veilchen.

In akkuraten Lettern ermahnt ein Schild, da recht tief angebracht, wohl in erster Linie die von der Vielfalt des Sortiments entzückte kindliche Kundschaft und die mit schlechten Manieren: „Das Betasten der Lebensmittel, das Ausspucken auf den Fußboden sowie das Mitbringen von Hunden ist polizeilich verboten.“

Andrea weiß noch genau, dass sie als Mädchen oft gar nichts besorgen musste, dass jedoch das reiche Angebot sie magisch anzog: „Dann ließ ich die Ladenglocke laut scheppern und duckte mich unter den Tresen. Wenn die Jakobs-Lina von hinten aus ihrer Küche trat und sich wunderte, weil sie niemanden sah, sprang ich hoch.“ Die Krämerin, deren richtigen Namen Andrea lange nicht kannte, tat freilich so, als hätte die Kleine sie jedes Mal wieder erschreckt.

Erst katholische Schule

Lina wurde nach ihrem Vater gerufen. „Gemischtwaren Jakob Schmidt“ stand bis zum Schluss über dem Eingang. Wann Familie Schmidt den Laden übernahm, ist im Detail nicht nachzuvollziehen. Die ältesten Geschäftsbücher, die Andrea fand, stammen von 1899. Das Haus wurde laut Landesamt für Denkmalpflege um 1700 errichtet. Von 1820 bis 1861 beherbergte es die katholische Schule des Dorfes samt Lehrer- und Mesnerwohnung. Das gotische Gotteshaus gegenüber war da längst schon evangelische Pfarrkirche. Für die Katholiken hatte Johann Philipp Fuchs von Dornheim, Domherr zu Würzburg und Bamberg, nahe seinem Schloss 1713 beim fürstbischöflichen Baumeister Joseph Greissing die neue Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Auftrag gegeben; den Eingang flankieren Figuren des heiligen Burkard und der heiligen Kunigunde, um die beiden fränkischen Bistümer zu repräsentieren. Den Adeligen aus dem geistlichen Stand beerbten Philipp Erkambert von Dalberg und seine Frau Anna Sophia, eine Geborene von Zobel. Deren Nachfahre Freiherr Carl Maximilian von und zu Dalberg löste das Schulhaus ab, gab es aber an einen bürgerlichen Besitzer weiter. Dessen jüdischer Schwiegersohn funktionierte das Erdgeschoss zum Krämerladen um. Auf ihn folgte dann Jakob Schmidt.

Friesenhausen unterhalb des beliebten Wanderziels Schwedenschanze, einer keltischen Fliehburg im Hofheimer Land, mit seinen aktuell rund 340 Einwohnerinnen und Einwohnern hatte einmal drei Gemischtwarenläden. Am längsten hielt sich der von Schmidts, weil die Lina offensichtlich großen Einsatz zeigte und ein Gespür dafür hatte, was gebraucht wurde und beliebt war. „Sonntags nach der Messe lockte sie Jung und Alt mit frischer Fleischwurst im noch warmen Weck“, weiß Andrea Meub. Und: Speziell für die Kleinen gab’s „Nährbier“. So steht es auf dem Etikett. Niemand bezeichnet Malzbier heute noch so.

Mehrere Auszeichnungen

Vermutlich hätte nichts von den Raritäten die Zeit überdauert, wäre das Haus nach dem Tod der letzten Krämerin sofort verkauft worden. Andrea Meubs Vater hatte sich vergeblich darum beworben, um das Grundstück als Bauplatz freizuräumen. Als es 2013 endlich doch zu haben war, schob die Vertreterin der nächsten Generation eben nicht das „Gerütsch“ einfach weg. Sieben Container Schutt habe sie weggefahren, erzählt sie. Aber ansonsten habe sie sich von nichts trennen können. Sie putzte das Anwesen fein heraus und erhielt dafür 2019 den bayerischen Staatspreis in der Kategorie „Dorferneuerung und Baukultur“. Im Jahr darauf durfte sie sich außerdem über die Denkmalschutzmedaille freuen.

Eine rundum gelungene Sanierung des Anwesens in der Dalbergstraße 8 in Friesenhausen. Das Engagement der Eigentümerin wurde mit dem bayerischen Staatspreis in der Kategorie „Dorferneuerung und Baukultur“ sowie mit der Denkmalschutzmedaille gewürdigt.
Eine rundum gelungene Sanierung des Anwesens in der Dalbergstraße 8 in Friesenhausen. Das Engagement der Eigentümerin wurde mit dem bayerischen Staatspreis in der Kategorie „Dorferneuerung und Baukultur“ sowie mit der Denkmalschutzmedaille gewürdigt.
Sammeltassen gehörten zur Grundausstattung eines jeden Haushalts und somit auch zum Standardsortiment eines Gemischtwarenladens.
Sammeltassen gehörten zur Grundausstattung eines jeden Haushalts und somit auch zum Standardsortiment eines Gemischtwarenladens.

Um Interessierte nicht bloß an Wochenenden begrüßen zu können, hat die Arzthelferin eine andere Stelle mit flexiblen Arbeitszeiten vor Ort angenommen. Oft hilft sie im Café „VeReNa“, das unter anderem Regionalität und Nachhaltigkeit im Namen trägt. Wenn sich eine größere Gruppe ankündigt, bereitet Andrea zusammen mit ihren Töchtern zuweilen auch Kaffee und Kuchen in der zum Anwesen gehörenden Scheune vor. Dafür etwas zu zahlen, ist wie bei den „Museumsführungen“ freiwillig. Anfragen unter 0151 40755614 oder andrea-meub@gmx.de

|  Fotos: Bernhard Schneider

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