Deutschlands erstes Christbaumdorf

Unverkennbar wird jedem Besucher Mittelsinns schon am Ortseingang klar, dass er in eine Gemeinde kommt, in der sich das ganze Jahr (fast) alles um den Christbaum dreht. Im Hinblick auf die Eröffnung der Verkaufssaison und auf die beiden Adventsmarktwochenenden schmücken Mitglieder des Vereins „Christbaumdorf“ die Sinnbrücke schon Mitte November mit frisch geschnittenem Grün. | Foto: B. Schneider
Foto: Melanie Klug

Der karge Boden ist der große Vorteil von Mittelsinn. Er bewirkt, dass alles Gehölz nur langsam wächst –  also kurztriebig, gleichmäßig, dicht, robust, … So sollen idealerweise die Nadelbäume sein, die das bevorstehende Weihnachtsfest verschönern. Mittelsinn, mit gut 800 Einwohnern die kleinste der 40 selbständigen Gemeinden des Landkreises Main-Spessart, geografisch am Übergang zur Rhön, nennt sich „Deutschlands erstes Christbaumdorf“. „Erstes“ ist durchaus doppeldeutig zu verstehen: Die Mittelsinner fühlen sich als Pioniere einer lohnenden Geschäftsidee und sie streben nach der Marktführerschaft. Die einseitige Bewirtschaftung von etwa 250 Hektar wird allerdings auch kritisch beäugt. 

Christbäume soweit das Auge reicht. Nachfragebedingt sind die Hänge rund um Mittelsinn vorwiegend mit Nordmanntannen bestockt. Für farbliche Tupfer sorgen unter anderem Rotfichten, Nobilistannen, Bergkiefern und Thujen („Lebensbäume“ aus der Familie der Zypressen); diese werden vorwiegend als Schnittgrün für Grabschmuck bzw. Friedhofs- und Weihnachtsgestecke geerntet. | Foto: B. Schneider

Uwe Klug ist Initiator und Sprecher des Vereins „Christbaumdorf“, in dem sich rund 30 örtliche Christbaumerzeuger vor drei Jahren vor allem zur Imagepflege und zur Verbesserung des Marketings zusammenschlossen. Die Idee war ein Volltreffer: 2016 kamen an den beiden Adventsmarktwochenenden mit Christbaumverkauf rund 10.000 Besucher. 2017 waren’s schon 20.000. Und heuer bereiten sich die Gastgeber auf 30.000 vor. Der Höhepunkt gleich am Eröffnungstag: ein Konzert mit der Aufführung einer eigenen Ortshymne („Hallo, lieber Weihnachtsmann“). Jerry James, Sänger der fränkischen Kultband „The Jets“, war dieses Jahr mit seiner in der Talentshow „The Voice Kids“ erfolgreichen Tochter Lisa am Mittelsinner Ausee bei einer Sonnwendfeier – hier werbeträchtig als „erste Sommerweihnacht“ bezeichnet – aufgetreten und hat danach prompt ein passendes Lied komponiert.


Markttreiben an vier Tagen 

An den Wochenende 8. und 9. sowie 15. und 16. Dezember jeweils samstags von 14 bis 21 Uhr und sonntags von 11 bis 19 Uhr lädt der Verein „Christbaumdorf“ nach Mittelsinn zum Adventsmarkt ein. In Höfen und an lauschigen Plätzen gibt es Herzhaftes und Süßes, Kunstvolles und Praktisches. Da haben geschickte und fleißige Handwerker(innen) gestrickt, genäht, gefilzt, Besen gebunden, Papier geschöpft, Gestecke dekoriert, Süffiges und Hochprozentiges angesetzt, … Und natürlich gibt es eine riesige Auswahl an Christbäumen – auch zum Selberschlagen; zur Kultur mit Aussicht übers Sinntal fährt der Nikolausexpress. Hier befindet sich zudem ein Christbaumlehrpfad, der in naher Zukunft mit weiteren Anknüpfungen – beispielsweise zu einem Bienenhotel und einem Rotwildgehege – als Rundwanderweg mit wahlweise zwei, drei und viereinhalb Kilometer Streckenlänge zum allgemeinen Naturlehrpfad aufgewertet werden soll.

Für jeden in Mittelsinn erworbenen Baum geht eine Spende ans SOS-Kinderdorf Hohenroth bei Rieneck. Für diesen Zweck engagiert sich auch die mit Mittelsinn verbundene Familie Heberer mit ihrer Wiener Feinbäckerei in allen ihren Filialen.

Mehr übers Programm unter www.christbaumdorf.de.


Während andernorts die Advents-, Christkindles- und Weihnachtsmärkte immer früher stattfinden, halten die Mittelsinner an ihren bisherigen Terminen fest; sie sind mit Bedacht gewählt. Uwe Klug empfiehlt, seinen Christbaum zwei bis drei Wochen vor dem Fest zu beschaffen – zwecks Eingewöhnung: „Für einen Baum wäre es purer Stress, auf den letzten Drücker aus der Kultur direkt ins Wohnzimmer geholt zu werden. Das verträgt er nicht.“ Der Bundesverband der Weihnachtsbaum- und Schnittgrünerzeuger in Deutschland e. V. (BVWE), bei dem Klug auch im Vorstand tätig ist, gibt auf seiner Internetseite Tipps:

  • Bewahren Sie den Baum nach dem Kauf im Netz an einer sonnen- und windgeschützten Stelle im Freien oder in einer kühlen Garage auf. 
  • Um das Austrocknen des Baumes zu verhindern, stellen sie ihn in einen Eimer Wasser. Ein etwa zwei Meter hoher Weihnachtsbaum benötigt bis zu zwei Liter Wasser am Tag. Entsprechend sollte der Ständer beschaffen sein. Den Stamm zwei bis drei Zentimeter frisch anschneiden. 
  • Den Baum am besten einen Tag vor dem Schmücken schon in die Wohnung stellen und das Netz von unten nach oben öffnen. So kann er seine Äste in Ruhe zurück in die natürliche Position bringen.
Foto: B. Schneider
Foto: B. Schneider
Bis zu 30.000 Tannen und Fichten stehen oder sind je nach Größe zu 80er-, 85er- oder 90er-Einheiten auf Paletten sortiert in der Hochsaison auf dem Klug’schen Lagerplatz in den Mittelsinner Auwiesen zur Abholung bereit. | Foto: B. Schneider

Mit Christkind, Staatssekretärin, Stimmkreisabgeordneten, Landrat und weiterer Prominenz starteten die Mittelsinner offiziell am 15. November in die Christbaumsaison 2018, indem sie mit der Bügelsäge eine Tanne fürs SOS-Kinderdorf Hohenroth fällten. Zuvor jedoch herrschte Aufregung, weil die Staatsanwaltschaft in einem Betrieb nach einem seit Jahrzehnten verbotenen Spritzmittel suchte. Spuren dessen waren im Advent 2017 an zwei Bäumen aus Mittelsinn in einem Gemündener Baumarkt nachgewiesen worden. Uwe Klug schüttelt über diesen Fall den Kopf: „Pflanzenschutz ist nur zu Beginn der Vegetationsperiode sinnvoll, damit die jungen Triebe konkurrenzlos ansetzen können.“ Es geht um vier bis sechs Wochen, bis die Nadeln verhärtet sind. Da sollen sie nicht überwuchert und nicht von fressenden bzw. saugenden Insekten befallen werden. „Studierende der TU München haben für ihre Abschlussarbeiten in unseren Kulturen Untersuchungen angestellt und ermittelt, dass die von uns eingesetzten Mittel nach wenigen Wochen abgebaut und die Insektenbestände regeneriert sind“, betont Klug. Hätten die Bäumchen es bis in ihr siebtes Jahr geschafft, bräuchten sie die beschriebene Unterstützung nicht mehr. Erntereif würden sie mit zehn. Niemand würde dann noch Geld ausgeben für etwas, was nicht gebraucht wird.

Uwe Klug hat die elterliche Milchviehhaltung in den frühen Neunzigerjahren nach einem Gespräch mit Bayerns erstem Verbraucherschutzminister Eberhard Sinner auf Christbaumanbau umgestellt – inzwischen auf rund 100 Hektar. Er sagt, er betreibe „konventionelle Landwirtschaft“ und bringe es damit auf eine bessere Ökobilanz als die meisten Bio-Kollegen, weil er seine Flächen nicht so oft mit Geräten durchfahren müsse wie diese. Ansonsten sei alles Handarbeit: Pflanzung, Korrekturschnitte, … Die dreijährigen Setzlinge importiert er aus Georgien. Einen künstlichen Bergsee hat er angelegt, nicht etwa um diese zu bewässern, sondern um sie vor Frostschäden im Frühjahr zu bewahren, indem er sie besprüht. Im Extremsommer heuer sei ihm die Hälfte der jungen Bäume eingegangen, und damit habe er vergleichweise noch Glück gehabt, meint er.

Rund 150.000 Christbäume aus Mittelsinn sorgen für Weihnachtsstimmung in deutschen Haushalten. Der größte Teil davon stammt aus dem „bäuerlichen Betrieb“ von Uwe Klug. Er vermarktet sie wie seine Kollegen aus dem Ort in der Regel regional – im Umkreis von rund 100 Kilometern. | Foto: B, Schneider

Trotzdem – die Preise sollen heuer laut BVWE stabil bleiben. Und der Bedarf an rund 27 Millionen Christbäumen in Deutschland sei zu über 90 Prozent aus heimischer Produktion durch rund 5.000 Anbauer gedeckt. Die inländische Versorgung nehme Jahr für Jahr zu; die wenigen Einfuhren würden vorwiegend aus Dänemark stammen. Am meisten gefragt sei nach wie vor die Nordmanntanne mit weitem Abstand gefolgt von Blaufichte, Nobilistanne und Rotfichte. Der aktuelle Trend gehe zu einer Baumgröße von 1,50 bis 1,75 Meter. Im Hause Klug wird der Christbaum allerdings doppelt so hoch in den Dachausschnitt einer Gaube ragen. Kugeln und Lichterkette würden kaschieren, wo der Wuchs vielleicht nicht perfekt geraten ist.

Foto: Melanie Klug

Isabell Heßler repräsentiert das Christbaumdorf Mittelsinn als Christkind. | Foto: Melanie Klug

Schon kleine Gesten schaffen Frieden

„Himmlische Unterstützung“ bekommt Mittelsinn heuer aus dem Nachbarort Aura – durch Isabell Heßler: Anfang 20, engelsblondes Haar. Sie möchte Jung und Alt ein gutes Gefühl und wunderschöne Erinnerungen schenken.

Warum gleich so hoch gegriffen? Christkind! Hätte es nicht auch getan, „Markenbotschafterin“ als Christbaumprinzessin zu sein?

Prinzessin will jedes Mädchen werden. Aber schaut man als Christkind den Leuten in die Augen, kann man sehen, dass der Kindheitsglaube wieder wach wird. Ich muss immer daran zurückdenken, wie meine Oma an Weihnachten als Christkind die Geschenke brachte; das war das Größte für mich. Jetzt möchte ich allen Gästen des Adventsmarkts im romantisch geschmückten Christbaumdorf ermöglichen, das Christkind persönlich zu treffen und Wünsche äußern zu können. Zeit zum Träumen!

„Wir bräuchten Schnee“, meint der Sprecher des Christbaumdorfs, Uwe Klug; eine weiße Welt steigere die Stimmung und die Vorfreude auf Heiligabend. Und was würde Dir gefallen?

Wir sollten unseren Mitmenschen gerade in der Vorweihnachtszeit zeigen, wie gern wir sie haben. Das vergisst man oft in all dem Stress. Schon kleine Gesten reichen für ein friedliches Miteinander.

Im Alltag bist Du Auszubildende in der Klosterbrauerei auf dem Kreuzberg – zur Ehre Gottes und zum Wohle vieler Pilger. Du zeigst noch mehr christlichen Einsatz?!

Unter dem Schutz des heiligen Florian bin ich in der Freiwilligen Feuerwehr Aura aktiv und helfe mit meinen Kameradinnen und Kameraden in Notlagen.

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Mittelsinner Bürger mussten ihr Dorf schon mehrfach neu „erfinden“

Eine Linde pflanzten die Mittelsinner 1902 als identitätsstiftenden Baum. Damals ahnte niemand, dass ein Jahrhundert später Nadelbäume den Ort prägen würden. Es war schon in der Vergangenheit so, dass die Bürger ihr Dorf immer wieder neu „erfinden“ mussten – stets mit Erfolg.

Mittelsinn – zwischen Burgsinn und Obersinn – wurde um 1275 gegründet. Selbständige Pfarrei ist es seit 1413. Das Turmuntergeschoss der Jakobuskirche stammt sogar schon aus dem frühen 14. Jahrhundert. Das Obergeschoss wurde 1582 aufgesetzt. Die Patronatsherren derer von Thüngen und von Hutten nahmen die neue Lehre an, wodurch die Menschen voll in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges gerieten; ihre komplette Ansiedlung fiel einem Brand zum Opfer. 1734 errichteten die Mittelsinner ein neues Kirchenschiff.

Mittelsinn gehörte ursprünglich zum Hochstift Würzburg, wurde bei der Auflösung des kirchlichen Staatsgebildes zunächst dem Großherzogtum Frankfurt zugeschlagen und erst 1814 dem jungen Königreich Bayern. Bis 1866 war es noch Teil des sogenannten bayerisch-hessischen Kondominatsbezirks. Ab dieser Zeit bildete sich auch eine jüdische Gemeinde, die allerdings 1938 beim Novemberpogrom zerstört wurde.

Seit der bayerischen Gebietsreform in den frühen 1970er-Jahren ist Mittelsinn Mitglied der Verwaltungsgemeinschaft Burgsinn. Damals hatte es noch über 1.000 Einwohner. Seit der Jahrtausendwende hat die Zahl bis vor Kurzem kontinuierlich abgenommen. Damals bewirtschafteten 36 Landwirte 87 Hektar Acker- und 298 Hektar Gründlandfläche. Das Gemeindegebiet umfasst insgesamt 1.432 Hektar, davon 665 Hektar Wald. 

Bemerkenswert einig zeigen sich die Mittelsinner in der Kommunalpolitik: Ihr Bürgermeister Peter Paul wird von einer einzigen gemeinsamen Liste von CSU, SPD und Unabhängigen Bürgern getragen. Bei der Landtagswahl 2018 stimmten lediglich 6,6 Prozent für die Grünen. Die Schwarzen erreichten genau den gleichen Anteil wie insgesamt im Freistaat. Die Roten übertrafen das Landesergebnis fast um das Doppelte.

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