Odenwälder Freilandmuseum zeigt die bis in die 1960er-Jahre herrschenden Lebensumstände
Vegetarisch, vegan oder gar frutan. Naturkost liegt im Trend. Bei der biologisch-dynamischen Ernährung stehen Grünkernbrätlinge ganz oben auf dem Speiseplan. Angrenzend an den Südwesten Unterfrankens hat der Anbau des dafür benötigten Getreides und dessen Verarbeitung eine Jahrhunderte währende Tradition. Im Odenwälder Freilandmuseum in Gottersdorf zwischen Miltenberg und Walldürn wird die Herstellung des Lebensmittels bildreich erklärt. Und man kann es vor Ort genießen.
Gleich hinter dem Kassenhäuschen duftet es aus der Dorfschänke beziehungsweise aus der zur Küche umfunktionierten Scheune. Bei schönem Wetter tischt das Verpflegungsteam unter Sonnenschirmen auf.
Eingeweiht in die Erzeugung des Grundstoffs etlicher hier angebotener Gerichte werden die Gäste im hinteren Abschnitt des weitläufigen Geländes. Kieswege winden sich um einen ehemaligen Klosterweiher. Amorbacher Mönche legten das Fischgewässer bereits im 14. Jahrhundert an. Im Zuge der Säkularisation erhielt 1803 das Fürstenhaus von Leiningen den Besitz als Ausgleich für den Verlust linksrheinischer Gebiete. 1986 kaufte die Stadt Walldürn See und Umgriff. Gebäude, die den Alltag und die einstigen Lebensumstände im badischen wie im bayerischen Odenwald und im unteren Neckartal widerspiegeln, denen der Abriss und somit das Vergessen einer regionaltypischen Kultur drohte, wurden in den beiden folgenden Dekaden hierher transloziert.
Natürlich meerblaue Fliesen
Ein eingetragener Verein trägt das Odenwälder Freilandmuseum. Die Verwaltung sitzt in einem der beiden Anwesen, die nicht von außerhalb nach Gottersdorf gebracht wurden, sondern zur ursprünglichen hiesigen Bebauung gehört. Das Wohnhaus wurde um 1700 errichtet, repräsentiert allerdings die jüngere Vergangenheit, nämlich die 1950er- und 1960er-Jahre. Selbstverständlich ist das Bad meerblau gefliest und verfügt über einen Boiler, um in der Wanne zu duschen.
Die zweite Museumsaußenstelle mitten in Gottersdorf ist ein großbäuerlicher Hof von 1725. Hier haben die Museumsleute ein Zeitfenster von 1760 bis 1960 mit der Auswahl der Exponate aufgestoßen. Gedieh in diesen 200 Jahren alles prächtig? Zumindest kann man Neidköpfe kennenlernen. Das sind geschnitzte verschmitzte Gesichter, die an der Tenneneinfahrt angebracht waren.
Ansonsten zeugt fast alles im Museum von einem kärglichen Auskommen der Menschen: Taglöhnerhaus, Kleinbauernhof, Armen- und Hirtenhaus, … Bei aller Not säumten dennoch abwechslungsreiche Gärten die Häuser. Und ein Markenzeichen der Architektur dieser Gegend: Oft war der Küche ein gemauerter Backofen vorgelagert.
Prügel mit der Kette
Hinter Lehm, Ziegeln und Balken stecken nicht nur Geschichte, sondern auch jede Menge Geschichten. Besucherinnen und Besucher werden hineingenommen in die Schicksale der früheren Bewohnerinnen und Bewohner. Vieles ist kurios, leider oft traurig.
Ein Mann, der als Auswanderer in Australien sein Glück gemacht hatte, interessierte sich irgendwann näher für das Schäferhaus der Familie Schmieg aus Gerolzahn. Er berichtete, dass er als Sechsjähriger – wie rund zwei Millionen andere Mädchen und Buben im Dritten Reich – daheim, wo Bomben fielen, zwangsevakuiert wurde; offiziell war von Kinderlandverschickung die Rede. 1940 kam er für fünf Jahre zu Schmiegs unter. Der lutherische Stadtjunge aus Bremen war schlimmem Leid entkommen, musste jedoch auf dem tiefkatholischen Land anderes ertragen. „Was der Konfessionsunterschied damals noch bedeutete“, so ist auf einer Stellwand festgehalten, „wurde dem kleinen Carl handgreiflich beigebracht, indem er jeden Freitag mit der Hundekette verprügelt wurde, weil man glaubte, aus dem Evangelischen den Teufel austreiben zu müssen.“
Wo es materiell und geistig etwas besser bestellt war, begegnete man der Tatsache der nicht vorhandenen Ökumene durchaus mit Humor. Unter der Überschrift „Ein Zettel und sein Geheimnis“ wird in einem auf 1777 datierten Wohnstallhaus aus Bofsheim Folgendes verraten: „Johann Michael, jüngster Sohn von Johann Adam Geiger, schrieb am 19. Februar 1782 als fast 14-Jähriger in der Schule eine Art Abschlussprüfung. Dieser Prüfungsbogen wurde hinter der Verkleidung an der Tür zwischen Küche und Stubenkammer entdeckt. Auf der Rückseite hatte eine andere Person ein Gedicht geschrieben, das – je nach dem, ob man es ein- oder zweispaltig liest – die evangelisch-lutherische oder die römisch-katholische Kirche verspottete.“
15 Personen in drei Räumen
Die sozial schwächsten Mitglieder einer ländlichen Gemeinschaft waren die Taglöhner. In einem Fall hauste ein Ehepaar mit 13 Kindern in gerade einmal drei Zimmern. Ein vierter Raum diente als Ziegen- und Hühnerstall.
Taglöhner waren in erster Linie auf Bauernhöfen gefragt – und in Ziegeleien. Eine solche ins Museum zu versetzen, war 2001 im wahren Sinn des Wortes ein Kraftakt. Der Brennofen mit meterstarken Wänden aus Bruchsteinen wiegt rund 50 Tonnen. Die Ziegelei war bei der Gründung 1788 nicht Brot-, sondern nur Nebenerwerb. Für den Eigentümer galt: „Bäcker backt auch Backsteine.“
Meist waren es Witwen mit Kindern sowie mittellose Alte und Kranke, die sich so gut wie nichts leisten konnten. Sie unterlagen der Fürsorgepflicht der jeweiligen Gemeinde. Die Reichartshäuser erbauten 1878 ein massives Spritzenhaus aus rotem Sandstein. In den oberen Stockwerken wurden für acht Berechtigte kleine Wohnungen mit Küche und Abort geschaffen. Der Armenpflegschaftsrat entschied über die Aufnahme und überprüfte immer wieder die Bedürftigkeit. Nach 1945 starteten Vertriebene von der Obdachlosenunterkunft aus in ihre Zukunft in der zweiten Heimat. Zuvor waren in den gleichen Kammern französische, belgische, polnische und russische Fremdarbeiter untergebracht und bewacht; Kontakt zu einheimischen Frauen war ihnen bei Todesstrafe untersagt.
Ab 1925 hatte die Dorfhebamme gegenüber der Stiege ein Dienstzimmer. In den 1930er-Jahren hatte ein Flickschuster im Dachgeschoss eine Werkstatt eingerichtet.
Handwerker führen im Museum des Öfteren überlieferte Techniken vor. 2023 erstmals mit dabei: Klaudia Herbst aus Lauda-Königshofen. Sie ist ein Publikumsmagnet. In der Sommerakademie der Flechtschule in Lichtenfels lernte sie, Körbe aus Trockengräsern und Kräutern zu binden. Für Augen und Nasen ein Genuss. Mancher möchte ein Exemplar erwerben. Doch Klaudia wehrt ab: „Es steckt so viel Arbeit drin. Da möchte ich mich von nichts trennen.“
Bauländer Spelz
Insbesondere im Juli und August richtet sich das Augenmerk auf die beiden Grünkerndarren aus Altheim und Sindelsheim. Etwa vier Wochen vor der Reife, im Stadium der sogenannten Teigreife, wird Dinkel geerntet und der grüne Kern mit einem Wassergehalt von rund 50 Prozent, um Gärprozesse zu verhindern, unverzüglich mittels Buchenholzfeuer drei bis vier Stunden gedörrt. Es riecht unverwechselbar süßlich. Der Rauch verleiht den Ähren einen kräftig würzigen Geschmack. Das getrocknete Getreide muss noch gedroschen und in der Putzmühle gereinigt und schließlich entspelzt werden. Dementsprechend heißt das Produkt „Bauländer Spelz“.
Das Bauland ist die Region zwischen Odenwald, Tauber, Jagst und Neckar. Ausläufer berühren den Hohenlohekreis sowie die Landkreise Heilbronn und Würzburg. Die waldarme, von Muschelkalk geprägte Landschaft auf 300 bis 400 Metern über dem Meeresspiegel eignet sich, um anspruchslose Getreidesorten anzubauen. Ob die hiesige Bevölkerung die Herstellung von Grünkern als Fleischersatz erfunden hat? Zumindest ist nirgendwo in Europa ein ähnliches Brauchtum bekannt. Der älteste Nachweis ist eine Kellereirechnung des Klosters Amorbach von 1660.
Die Bauern deckten zunächst nur ihren Eigenbedarf. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Grünkern zur Handelsware. Nährmittelfabriken benötigten ihn für ihre Suppenextrakte. Genossenschaften steuerten die Vermarktung und den Preis. Während der Weltkriege lenkte der Staat die Produktion. Um nicht mehr abhängig vom Ausland zu sein, wurde Reis durch Grünkern ersetzt. Die Ökobewegung im ausgehenden 20. Jahrhundert bewirkte einen neuerlichen Aufschwung.
Text und Fotos: Bernhard Schneider
Gottersdorf liegt zwar im baden-württembergischen Neckar-Odenwald-Kreis, aber nur wenige Kilometer hinter der bayerischen Landesgrenze. Dort verläuft auch die Deutsche Fachwerkstraße. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist das Freilandmuseum werktags entweder ab Walldürn oder Amorbach per Bus zu erreichen, sonn- und feiertags nur ab dem Walldürner Bahnhof mit vorbestelltem Ruftaxi (0180 1840001). Geöffnet ist es täglich außer montags ab 10 bis 17 Uhr (Winterbetrieb) beziehungsweise bis 18 Uhr (Sommerbetrieb). Führungen sind auf Anfrage (06286 320) gegen eine zusätzliche Gebühr möglich. Der normale Eintrittspreis beträgt für Erwachsene 6,50 Euro, Kinder unter sechs Jahren sind frei. Informationen zu Sonderaktionen unter www.freilandmuseum.com.
Wundervolles Walldürn
Nur acht Kilometer sind’s von Gottersdorf nach Walldürn. Östlich des Stadtgebiets kann das Unseco-Weltkulturerbe Limes aufgesucht werden; mit dieser Befestigungslinie gelang es den Römern, zwischen 160 und 260 nach Christus den Grenzverkehr zwischen ihrem Reich und Germanien zu regulieren. In Walldürn selbst konzentriert sich das Geschehen auf die Wallfahrtsbasilika zum Heiligen Blut. In einem Silberschrein wird ein Korporale verwahrt, ein serviettengroßes Leinentuch, wie es bei der Messe unter Kelch und Hostienschale gelegt wird. Ein Priester namens Heinrich Otto soll um 1330 nach der Wandlung aus Unachtsamkeit den Kelch umgestoßen haben. Das Blut des Herrn habe sich über das Tuch ergossen. Darauf habe sich mehrfach das Antlitz Jesu abgebildet. 1445 stellte Papst Eugen IV. eine Ablassurkunde aus. Während der jährlichen, an den Dreifaltigkeitssonntag anschließenden vierwöchigen Hauptwallfahrtszeit strömen immer rund 100 000 Pilger an den Ort des Wunders. Heuer stammt das Leitwort aus dem Buch Jeremia (29, 11): „Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben.“ Das Pontifikalamt zum „Großen Blutfeiertag“ am Donnerstag, 15. Juni, um 9 Uhr zelebriert Erzbischof Stephan Burger aus Freiburg. Am „Walldürner Krankentag“ am Dienstag, 20. Juni, um 9:30 Uhr nimmt Bischof em. Dr. Friedhelm Hofmann aus Würzburg die Krankensalbung vor. Zur „Frauenwallfahrt“ am Mittwoch, 21. Juni, kommt um 10 Uhr Bischof Dr. Bertram Meier aus Augsburg und zum „Gebetstag für geistliche Berufe“ am Donnerstag, 29. Juni, um 9:30 Uhr Erzbischof em. Dr. Ludwig Schick aus Bamberg. Am Sonntag, 2. Juli, um 18 Uhr wird der Blutschrein des Gnadenaltars wieder geschlossen.