Spurensuche im Steigerwald

„Ich gehe, also bin ich.“ Diese Weisheit kann man auf dem Euerberg oberhalb von Fabrikschleichach erlangen. Allerdings ist der Hauptgrund, sich ins wahrscheinlich jüngste Dorf des Steigerwalds aufzumachen, in der Regel ein anderer. Die meisten begeben sich auf die Spuren Balthasar Neumanns. Wegen des vor gut 300 Jahren begonnenen Baus der Würzburger Residenz soll der geniale Architekt sich in Fabrikschleichach auch als Unternehmer betätigt haben; vor allem die zahlreich und in höchster Qualität benötigten Fensterscheiben aus sogenanntem Mondglas habe er hier fertigen lassen. Der Mythos lockt. Gewissermaßen nebenbei gibt es viel Verblüffendes zu entdecken – unter anderem rund um die hiesigen Gotteshäuser.

So viel vorweg: Die „Episode Neumann“ in Fabrikschleichach dauerte nur elf Jahre. Die zeitweise bis zu drei Glashütten waren insgesamt 160 aufregende und stets unstete Jahre in Betrieb. Soll heißen, dass hier alles andere als Ruhe und Kontinuität herrschten, die man heutzutage allzu gerne auf den vor allem mit wertvollen Buchen bewachsenen Höhen sucht und fürwahr findet. Im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ erwarb Fabrikschleichach Auszeichnungen bis auf Landesebene.

Wachsender Bedarf an verschiedensten Gläsern im Fürstbistum Würzburg führte vor 315 Jahren zur Gründung Fabrikschleichachs.Heute zählt der Ort rund 120 Einwohner.
Wachsender Bedarf an verschiedensten Gläsern im Fürstbistum Würzburg führte vor 315 Jahren zur Gründung Fabrikschleichachs. Heute zählt der Ort rund 120 Einwohner.
In der früheren Pottaschensiederei der Fabrikschleichacher Glashütte entsteht jetzt Keramikkunst.
In der früheren Pottaschensiederei der Fabrikschleichacher Glashütte entsteht jetzt Keramikkunst.

Wie der Name schon sagt, war der heute rund 120 Einwohner zählende Ort ursprünglich eine Industrieansiedlung. Als Fabrikschleichach benannt erst 1846. Bis dahin war fast anderthalb Jahrhunderte lang ganz einfach nur die Rede von Glashütten. Die Produktion war von Neuschleichach aus verlagert worden nah zum wichtigsten Rohstoff. Massenweise Holz wurde benötigt als Energiequelle für die Schmelzöfen und als Grundlage für Pottasche (Kaliumkarbonat). Dieses von Begleitstoffen befreite Konzentrat aus Waldaschen kam als Flussmittel in Gebrauch, als man unter dem Einfluss der venezianischen Mode im Gegensatz zum bis dato üblichen grünen Glas nun farbloses – also Weißglas – herzustellen suchte. Damals ein Luxusgut. Ware aus dem Steigerwald wurde bis nach Holland exportiert. Fabrikschleichacher Glasscheiben sollten allerdings vor allem in der Region eingesetzt werden, so zum Beispiel im Wernecker Schloss und in der Haßfurter Ritterkapelle.

„Waldverwüstung“

Ein Erlass des Würzburger Fürstbischofs Friedrich Karl von Schönborn ermöglichte den Glashüttenbetrieb durch einen Pächter. Ein entsprechender Vertrag datiert auf den 1. Januar 1706 – der Geburtstag Fabrikschleichachs. Die ersten Gläser wurden bereits im Februar geblasen. Die Betriebsleitung wechselte vielfach – meist einhergehend mit dem Ableben des Landesherren und der Wahl eines neuen. Neid und Missgunst, Anfeindungen und Korruption waren verbreitet. Selbst Balthasar Neumann war vor bösen Anschuldigungen nicht gefeit. So gab es während seines Engagements in Fabrikschleichach zwischen 1737 und seinem Tod 1753 eine fünfjährige Pachtunterbrechung, weil er der „Waldverwüstung“ bezichtigt worden war. 

Gewissermaßen minutiös aufgezeichnet hat die Ereignisse Werner Loibl. Der ehemalige Leiter des Spessartmuseums in Lohr hat das fränkische Glashüttenwesen akribisch erforscht; zum 300-jährigen Bestehens Fabrikschleichachs 2006 legte er eine umfangreiche Chronik vor. Darin sind unter anderem auch Kuriositäten dokumentiert wie das nicht ganz legale Anheuern und schnelle Feuern von Fachkräften mit vermeintlichen Spezialwissen.

Die Produktpalette reichte von „normalen“ Hohlgläsern bis zu kunstgewerblichen Arbeiten. Zweifellos waren die Fabrikschleichacher versiert in Bezug auf Mondglas. Wegen des runden Mittelstücks, der „Butze“, werden diese Scheiben so bezeichnet. Neumann wagte sich sogar an die besonders hohe Qualität erfordernde Spiegelglasherstellung. Dafür beantragte er 1738, ihm eine alte Haubitze zu überlassen, um eine Spiegelplatte zu gießen Der Fürstbischof gewährte ihm das ausrangierte Geschütz.

Freier Eintritt im Museum

Einen Querschnitt der Fabrikschleichacher Erzeugnisse kann man im „Museum“ in alten Spritzenhaus bewundern – bei freiem Eintritt. Den Schlüssel darf man sich gegenüber im Café „Ton“ holen. Dieses gehört zur Keramikwerkstatt von Susanne Lillich. Die Töpferei betreibt sie seit gut 40 Jahren in der ehemaligen Pottaschensiederei. Zuvor waren hier im Akkord Schaufeln gefertigt worden. Verbunden war die Fabrik wegen der in großer Zahl benötigten Stiele mit einem Sägewerk direkt daneben. Das baute der pensionierte Schreinermeister Werner Hogen einfühlsam zum Wohnhaus um. Sein Hobby: die Geschichte der Heimat. Er sammelte Relikte aus den Glashütten und errichtete im Wesentlichen zusammen mit Hans Koppelt das vermorschte Spritzenhaus in Fachwerkbauweise neu; zum Teil aus historischem Material: Kaum einem Museumsgast ist bewusst, dass er eine ehemalige Kirchentür aufschließt.

Was im alten Spritzenhaus von Fabrikschleichach ausgestellt ist, hat im Wesentlichen Werner Hogen gesammelt und arrangiert. Wenn er das Museum öffnet, schließt er die frühere Türe der Dorfkirche auf.
Was im alten Spritzenhaus von Fabrikschleichach ausgestellt ist, hat im Wesentlichen Werner Hogen gesammelt und arrangiert. Wenn er das Museum öffnet, schließt er die frühere Türe der Dorfkirche auf.

Ein Spritzenhaus wurde von Anfang an gebraucht. Brandgefährlich war’s immer rund um die Schmelzöfen. Vor 250 Jahren zerstörten Flammen die ganze Anlage. Feuersgefahr war letztlich auch der Grund für den Bau der 1825 geweihten, neuen Dorfkirche. Die vormalige Kapelle war vom Blitz getroffen worden und drohte einzustürzen. Während die Glasmacher auswärts den Gottesdienst besuchten, konnte sich Schlimmes ereignen. Deshalb boten die seinerzeitigen Pächter an im Hinblick auf eine günstige Vertragsverlängerung, den Kirchenbau zu bezahlen. Der Einschlag von 212 Stämmen war ihnen dafür genehmigt worden. Allerdings  – wie sich bei den Loibl’schen Recherchen zeigte – verkauften sie diese überwiegend weiter und erstanden stattdessen billig für den als Getreidelager genutzten Dachstuhl Abbruchholz vom säkularisierten Kloster Münsterschwarzach. Der Betrug erwies sich im Nachhinein als Glücksfall für die Denkmalpflege. 

Rund um den Bau der Dorfkirche von Fabrikschleichach erwies sich ein Betrug als Glücksfall für die Denkmalpflege: Statt aus frisch eingeschlagenem Holz wurde der Dachstuhl errichtet aus Balken der abgebrochenen Klosterkirche von Münsterschwarzach.
Rund um den Bau der Dorfkirche von Fabrikschleichach erwies sich ein Betrug als Glücksfall für die Denkmalpflege: Statt aus frisch eingeschlagenem Holz wurde der Dachstuhl errichtet aus Balken der abgebrochenen Klosterkirche von Münsterschwarzach.

Kilian und das „Käppela“

Den Frankenaposteln ist das am Gemeindeweiher gelegene Gotteshaus gewidmet. Es wird vermutet, dass bei dem Geschäft mit den Balken aus Münsterschwarzach auch ein Heiligenfigürchen aus Stein nach Fabrikschleichach gelangte, das zunächst in eine Nische über dem Eingang des „Gloshütter Käppelas“ hoch über dem Ort postiert wurde. Jetzt steht dort eine Kopie. Das Original ziert die linke Wand der Kuratiekirche St. Kilian und Gefährten. Es wird auf den ersten Jahrtausendwechsel datiert und gilt als eine der frühesten Kiliansdarstellungen.

Um das Jahr 1000 soll diese Darstellung des heiligen Kilian geschaffen worden sein.
Um das Jahr 1000 soll diese Darstellung des heiligen Kilian geschaffen worden sein.

Jene nur wenige hundert Meter von der Ortsmitte entfernte Waldkapelle stammt aus dem Jahr 1730. Ein Fuhrmann soll sie als Dank an die Gottesmutter gestiftet haben: Bei der Talfahrt mit schwerer Holzladung riss ihm die Kette des Hemmschuhs, sodass sein Gespann ungebremst den Hohlweg hinunterraste und er auch nicht mehr abzuspringen wagte. Wie durch ein Wunder kam es weit hinter dem Ort unversehrt zum Stehen. 

Im Zweiten Weltkrieg wandten sich die Bewohner von Fabrikschleichach und des Nachbardorfs Fatschenbrunn in ihrer Not ebenfalls an die heilige Maria. Sie gelobten, alle Jahre im Mai zum „Käppela“ zu pilgern. Einzelne erfüllen dies viel öfters. Zumindest heißt’s, dass hier immer jemand anzutreffen sei. 

Das „Gloshütter Käppela“ ist der Gottesmutter Maria geweiht. Viele Spaziergänger sprechen hier ein Gebet.
Das „Gloshütter Käppela“ ist der Gottesmutter Maria geweiht. Viele Spaziergänger sprechen hier ein Gebet.
Nurmehr eine Kopie einer der ältesten Kiliansdarstellungen steht in einer Mauernische über dem Portal der Waldkapelle. Das Original befindet sich in der Filialkirche unten im Ort.
Nurmehr eine Kopie einer der ältesten Kiliansdarstellungen steht in einer Mauernische über dem Portal der Waldkapelle. Das Original befindet sich in der Filialkirche unten im Ort.
Der Gottesmutter Maria ist das „Käppela” geweiht.
Die Gläubigen bitten Maria im „Käppela” um Fürsprache bei Gott.
Der Buchbrunnen plätschert ganz in der Nähe der Steigerwald-Höhenstraße (Staatsstraße 2258).
Der Buchbrunnen plätschert ganz in der Nähe der Steigerwald-Höhenstraße (Staatsstraße 2258).
Wenig Wasser entspringt derzeit dem Wotansborn.
Wenig Wasser entspringt derzeit dem Wotansborn.

„Goldene Worte“

Das Kirchlein ist die erste Station auf einem gemütlichen Wanderweg von etwa acht Kilometern rund um Fabrikschleichach. Früher war’s die Wildsautour, jetzt handelt es sich bei der Strecke vorbei an Buchbrunnen, Metzgersmarter und Wotansborn offiziell um die „R8“ der Gemeinde Rauhenebrach. Borstenvieh und Schrift lotsen die Naturfreunde. Ein Hinweis auf eine Besonderheit fehlt jedoch: Der Weg führt am Fuß des Euerbergs entlang. Oben, nahe des Gipfels, mit seinen 488 Metern auf gleicher Höhe mit dem bekannteren Zabelstein, hat der bald 90-jährige, international angesehene Künstler und Philosoph herman de vries gleich zweimal „Spuren“ hinterlassen. Im Umkreis seines Wohnsitzes Eschenau hat er sich an insgesamt 28 Stellen mit „goldenen Worten“ verewigt – Erkenntnisse, die er in Fels gehauen hat; die Vertiefungen der Buchstaben hat er mit Blattgold ausgelegt. Die jüngste Botschaft von 2019 besteht nur aus drei Lettern: joy – der englische Begriff für Freude, ohne die das Leben unvollkommen wäre. Der Sandsteinfindling mit dieser Inschrift befindet sich rechter Hand des abschüssigen Forstpfads. Wenige Meter weiter zur Linken ist zu lesen: ambulo ergo sum. Auf Deutsch: Ich gehe, also bin ich. Abgeleitet ist diese Erkenntnis von René Descartes (1596–1650) berühmten Ausspruch: cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Im Disput argumentierte ein anderer Philosoph, Pierre Gassendi (1592–1655), das Denken folge sinnlichen und körperlichen Erfahrungen. Diesen Vorgang beschreibt der im Steigerwald im besten Sinn vererdete de vries so: „Ich sehe es, ich rieche es, ich schmecke es, ich höre es, ich fühle es, ich bin es, ich atme es.“ 

Mit „goldenen Worten“ hat der Künstler und Philosoph herman de vries sich im Steigerwald verewigt.
Mit „goldenen Worten“ hat der Künstler und Philosoph herman de vries sich im Steigerwald verewigt.

| Fotos: B. Schneider

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